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[92] Von oben gleist grasgrüner Ampelschein herab auf eine graue, ovale Bürste und ein Straußenei, auf den Mahagonitisch, welcher ein Schachbrett, ein Glas und eine Flasche Tokayer trägt, außerdem die gewichtigen Oberkörper von zwei greisen Männern stützt; auf einiges mehr. Wunderliche Schatten blinzeln allenthalben, und auf dem olivenfarbigen Teppich blitzt eine verlorene Stecknadel. Rund um den Lichtbann herum, der noch knapp die beiden Sammetstühle schneidet, träumt grundloses Dunkel, aus dem nur wenige Gegenstände hervordämmern, sich manchmal um ein Geringes zu bewegen scheinen. Hie und da klappert eine Figur auf dem Brett.

Auf einmal setzt ein kleines, anhaltendes Geräusch ein.

Das Straußenei hebt sich; es ist der Schädel des Siebzigjährigen. Er neigt sich seitwärts, um zu lauschen. Ebenso lauscht Onkel Fußball – die graue Bürste – und sagt nach einer Weile mit hohler Stimme das eine Wort: »Holzwurm.«

Der Stadtrat nickt, so oft, als vermöge er nimmer einzuhalten, und aus seinem froschartig schnappenden Munde ringt sich eine schwache dünne Sprache: »Es wird Zeit, mit den Würmern in Konnex zu treten. Gardez!«

Onkel Fußball zieht die Dame zurück. Der andere rochiert. Schweigsam, tristlaunig, gemächlich überlegend, spielen die gleichstarken Gegner friedlichen Krieg.

Der Holzwurm, nicht mehr beobachtet, bohrt emsig weiter. Eine gestorbene Motte fällt von der Ampel herab, gerade in die Mündung der Flasche; niemand bemerkt es.

Endlich macht der Grauhaarige einen Ansatz, etwas Frohsinn in die bange Stille zu reden: »Ja, ja, der olle Rollemann«, brummt er, mühsam grinsend und kramt damit ein längst vergangenes Gespräch wieder hervor, »er war kein anständiger Mensch, aber ein spaßhafter Kauz – Schach!«

Der Stadtrat, ohne etwas zu erwidern, schiebt einen Bauer vor und gerät abermals ins Kopfnicken. »Schach!«

Die Bürste entwickelt einen glücklichen Trick und – »Schach!«[92] – fährt fort zu plaudern: »Wenn ich nicht irre, lebte damals noch Daja – Schach und Gardez! Nein, der ist vom Springer gedeckt. Sie war solch ein liebes Mädel.«

»Oh«, bricht des Stadtrats hohe Stimme ein, »das Bravste, das Klügste, das Beste von meinen Kindern, das einzige, das mir mit Freude vergalt.«

Onkel Fußball merkt wohl, wie sein Partner mit dem Finger über die stumpfen Augen wischt. »Und drollig in ihren Einfällen. Schach! Gib die Partie auf: es bleiben dir höchstens drei Züge. Ich besinne mich noch, sie hatte ein Kaninchen, das sie Verstorbenheit nannte. – Ein närrisches Mädel.«

Müde, stöhnend, gähnend legt sich der Stadtrat im Sessel zurück. Onkel Fußball gießt zitternd Tokayer ins Glas, leert es, schluckt die tote Motte mit hinunter. »Der Teufel mag wissen, was hinter dem Goal steckt.« Nochmals füllt er das Glas, »Prosit Alter«, klingt es an die Flasche.

Und in die späte Stunde hinein hallt ungewürdigt ein schluchzender, gedehnter Laut, wie ihn die Zither mitunter gebiert, wie ihn die Nachtigall weint.

Quelle:
Joachim Ringelnatz: Das Gesamtwerk in sieben Bänden. Band 4: Erzählungen, Zürich 1994, S. 92-93.
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