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[86] Über kaltes Rindfleisch und trockenen Kartoffelsalat schoß unwirsch, verärgert und herrisch der Befehl: »Murmel soll nach dem Park laufen und das Balg herbeischleppen!«

Über Kartoffelsalat und Rindfleisch sandte die Stadträtin unwirsch, verärgert aber streitbeharrlich die Auskunft zurück: »Murmel ist schon lange dieserhalb unterwegs.«

Gabeln, Messer, Teller und Tassen tönten in Bewegung. Alle Speisenden lauschten diesem Geräusch.

»Unerhörte Ferkelei«, fuhr Herr Scholz jäh von neuem auf, indem er seine Tasse klirrend niedersetzte, »da schwimmen Fliegen und ekelhaftes Wurmzeug im Tee.«[86]

Der Diener überstürzte sich, erklärte aber dann zu Onkel Fußballs Freude völlig ruhig: »Das ist kein Wurmzeug, gnädiger Herr; das sind Teeblätter.«

Vielleicht ohne Absicht zerbrach der gnädige Herr die besprochene Tasse. »Das ist mir gleich, ob Wurmblätter oder Teezeug. Jedenfalls will –«

Vergeblich versuchte seine Frau noch einmal zu besänftigen: »Rege dich doch nicht so auf wegen des Kindes.«

»Ich mich nicht aufregen wegen diesem Galgending, diesem Sargnagel, diesem faulsten, dümmsten und unverschämtesten von meinen Kindern? Nicht aufregen? Ha, ha, nicht aufregen! Das ist genau so, als wenn das Bett unter mir in Flammen aufloderte und du würdest zu mir sagen: Laß dich nicht stören.«

»Nun ist's genug!« brauste Frau Scholz, und sie wuchs gleichsam dabei. »Daja ist heimlich zum Fenster hinausgeklettert, gut –«

»Nicht gut!« überschrie Herr Scholz.

»Also nicht gut«, überbot Frau Scholz. »Daja hat gefehlt, und ich werde sie nach Gebühr bestrafen, aber wir anderen wünschen ihr Vergehen nicht zu entgelten.«

Mademoiselle rückte mit dem Stuhl und flötete: »Ich möchte mik doch lieber nach der Kind umsehen; wer weiß, wo sie sik hertreibt.«

»Bleiben Sie nur, liebste Ma'selle, Murmel wird sie schon finden.«

»O der süße leichtsinnige Kind! Sie konnte sik totschlagen. Und sie muß über das Teerdach von der Remise gegleitet sein, wie wird das rote Röckchen aussehen! oh, oh!«

Onkel Fußball hatte tüchtig und wohl gespeist und mischte sich nun behaglich in das Gespräch: »Die Remise ist mit Ruberoid gedeckt; das enthält keinen Teer«, berichtigte er provozierend. Da fand endlich auch Herr Rommel, der neue Hauslehrer, Gelegenheit, etwas in die Konversation einzuschieben, nachdem er bisher schweigsam eine Maschine aus Messerbänkchen, Serviettenring und Löffel konstruiert und eingehend beobachtet hatte. »Verzeihung«, knietschte er, »die Remise trägt doch Dachpappe.«

Chile und Peter verhielten sich angestrengt manierlich und warteten halb furchtsam, halb schadenfroh auf ihrer Schwester Erscheinen.[87]

»Zu unartig, ihre armen Eltern so zu kränken«, barmte Mademoiselle und schüttelte erstaunlich viel rotblonde Locken, auch ein vorwitziges graues Löckchen.

»Vati«, hub Peter an, ungewiß in bezug auf die Wirkung, »Daja hat auch die Glasscheibe vom Spielkasten zerschlagen.«

»Wetten wir, daß ihr Kleid keinen einzigen Teerfleck aufweist?« proponierte Onkel Fußball dem Hauslehrer. »Es gilt eine Schachtel Apis.«

»Verklagt euch nicht immer gegenseitig«, schalt Frau Scholz ihrem Sohne zu.

»Ja, nimm du sie nur noch in Schutz«, zischte der Stadtrat, »aber ich werde sie zum Krüppel zermalmen, mit dem Rohrstock hauen, bis –«

»Und ich verlange Ruhe in meinem Hause.«

Onkel Fußball wieherte amüsiert. »Unterlaß diesen Hohn, bitte«, bellte ihn der Stadtrat an.

»Na, du wirst wohl erlauben, daß ich –«

Die Tür Öffnete sich aufschreckend, und die alte, in der Haltung fast rechtwinklige Murmel mit ihrem farbenschwachen Haar, farbenschwachen Gesicht und farbenschwachen Kleide präsentierte sich. Sie schluckte ein paarmal – »Luftgurken«, wie Onkel Fußball es bezeichnete – und preßte dabei die gefalteten Hände auf den Magen, wie sie immer tat, wenn sie etwas von Wichtigkeit vorzubringen hatte. Die am Tische kicherten. Nur der Stadtrat rief zornschäumend vom Stuhl aufspringend der Kinderfrau entgegen: »Vor allen Dingen bring mir den Rohrstock herein, den Rohrstock!«

»Den braucht's nicht, Herr Stadtrat«, sagte Murmel schwer und bitter mit einer Stimme, die alle lähmte, »unser Herrgott hat's Dajerle fortgeführt. Daja« – auf einmal schluchzte die Alte gräßlich auf – »Da-da-aja ist ertrunken.«

Quelle:
Joachim Ringelnatz: Das Gesamtwerk in sieben Bänden. Band 4: Erzählungen, Zürich 1994, S. 86-88.
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