Alte Winkelmauer

[261] Alte Mauer, die ich oft benässe,

Weil's dort dunkel ist.

Himmlisches Gefunkel ist

In deiner Blässe.


Pilz und Feuchtigkeiten

Und der Wetterschliff der Zeiten

Gaben deiner Haut

Wogende Gesichter,

Die nur ein Dichter

Oder ein Künstler

Oder Nureiner schaut.


»Können wir uns wehren?«

Fragt's aus dir mild.

Ach, kein Buch, kein Bild

Wird mich so belehren.


Was ich an dir schaute,

Etwas davon blieb

Immer. Nie vertraute

Mauer, dich hab' ich lieb.


Weil du gar nicht predigst.

Weil du nichts erledigst.

Weil du gar nicht willst sein.

Weil mir deine Flecken

Ahnungen erwecken.

Du, eines Schattens Schein.


Nichts davon wissen

Die, die sonst hier pissen,

Doch mir winkt es: Komm!

Seit ich dich gefunden,

Macht mich für Sekunden

Meine Notdurft an dir fromm.

Quelle:
Joachim Ringelnatz: Das Gesamtwerk in sieben Bänden. Band 1: Gedichte, Zürich 1994, S. 261-262.
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