[Lackschuh sprach zum Wasserstiebel]

[71] Lackschuh sprach zum Wasserstiebel:

»Lieber Freund, du riechst so übel.

Und du bist nach meiner Meinung

Eine störende Erscheinung.

Darum muß wohl von uns beiden

Einer dieses Schuhhaus meiden.«

Stiefel lächelte dazu

Und begann: »Verehrter Schuh,

Wenn du jenes Sprichwort kennst:

Alles ist nicht Gold, was glänzt,

Nimm es besser dir zu Herzen,

Denn die Welt, sie liebt zu schwärzen,

Was da glänzt, auch zieht sie keck

Das Erhabne in den Dreck.

Will dein Lack mir auch gefallen,

Teurer Schuh, bedenke doch,

Wenn der Lack in Staub zerfallen,

Lebt das fette Leder noch.

Niemals hieltest du den nassen

Kalten Wasserfluten stand,

Denn die Elemente hassen

Das Gebild von Menschenhand.«

Und der Schuh verbeugte sich.

Darauf sprach er ernst und würdig:

»Freund, ich überzeugte mich,

Daß du mir ganz ebenbürtig.

Leider war mir anfangs duster,

Was mir jetzt Gewißheit ist,

Daß du Meisterwerk vom Schuster

Wasser-Dichter Stiefel bist.«

Quelle:
Joachim Ringelnatz: Das Gesamtwerk in sieben Bänden. Band 1: Gedichte, Zürich 1994, S. 71.
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