Das scheue Wort

[436] Es war ein scheues Wort.

Das war ausgesprochen

Und hatte sich sofort

Unter ein Sofa verkrochen.


Samstags, als Berta das Sofa klopfte,

Flog es in das linke, verstopfte

Ohr von Berta. Von da aus entkam es.

Ein Windstoß nahm es,

Trug es weit und dann hoch empor.

Wo es sich in das halbe, bange

Gedächtnis eines Piloten verlor.
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Fiel dann an einem Wiesenhange

Auf eine umarmte Arbeiterin nieder,

Trocknete deren Augenlider.

Wobei ein Literat es erwischte

Und, falsch belauscht,

Eitel aufgebauscht,

Mittags dann seichten Fressern auftischte.


Und das arme, mißbrauchte,

Zitternde scheue Wort

Wanderte weiter und tauchte

Wieder auf, hier und dort.

Bis ein Dichter es sanft einträumte,

Ihm ein stilles Palais einräumte. – –


Kam aber sehr bald ein Parodist

Mit geschäftlich sicherem Blick,

Tauchte das Wort mit Speichel und Mist

In einen Aufguß gestohlner Musik.


So ward es publik.

So wurde es volkstümlich laut.

Und doch nur sein Äußeres, seine Haut,

Das Klangliche und das Reimliche.

Denn das Innerste, Heimliche

An ihm war weder lauschend noch lesend

Erreichbar, blieb öffentlich abwesend.

Quelle:
Joachim Ringelnatz: Das Gesamtwerk in sieben Bänden. Band 1: Gedichte, Zürich 1994, S. 436-437.
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