Noctambulatio

[108] Sie drückten sich schon beizeiten

Fort aus dem Tanzlokal

Und suchten zu beiden Seiten

Der Straße das Gast- und Logierhaus Continental.


So dringlich: Man hätte können glauben,

Er triebe sie vorwärts wie ein Rind.

Und doch handelten beide im besten Glauben.

Er wollte ihr nur die Unschuld rauben.

Sie wollte partout von ihm ein Kind.


Da geschah es, etwa am Halleschen Tor,

Daß Frieda über dem Knutschen und Schmusen

Aus ihrem hitzig gekitzelten Busen

Eine zertanzte, verdrückte Rose verlor.


Und ein sehr feiner Herr, dessen Eleganz

Nicht so rumtoben tut, folgte den beiden.

Jedoch hielt er sich vornehm bescheiden

Immer in einer gewissen Distanz.


Er wollte ursprünglich zum Bierhaus Siechen.

Aber nun hemmte er seinen Lauf,

Zog die Handschuh aus, hob die Rose auf

Und begann langsam daran zu riechen.


Er wünschte aber keinen Augenblicksgenuß;

Deshalb stieg er mit der Rose in den Omnibus.

Derweilen war Frieda mit ihrem Soldaten

Auf einen Kinderspielplatz geraten.

Dort merkten sie nicht, wie die Nacht verstrich

Und daß ein unruhiger Mann mit einem Spaten

Sie dauernd beschlich.


Als sich nach längerem Aufenthalt

Das Paar in der Richtung zur Gasanstalt

Mit kurzen, trippelnden Schritten verlor,[109]

Sprang der unruhige Mann plötzlich hervor.

Und fing an, eine Stelle, wo er im Sand

Die Spur von Friedas Stiefelchen fand,

Mit seinem Spaten herauszuheben.

Worauf er behutsam mit zitternder Hand

Die feuchte Form in ein Sacktuch band,

Um sich dann leichenblaß heimzubegeben.


Wie um das dümmste Mädchen

Sich sonderbare Fädchen

Nachts durch die Straßen ziehn –

Die Dichter und die Maler

Und auch die Kriminaler,

Die kennen ihr Berlin.

Quelle:
Joachim Ringelnatz: Das Gesamtwerk in sieben Bänden. Band 1: Gedichte, Zürich 1994, S. 108-110.
Lizenz:
Kategorien: