Formstudien

[56] Hinkende Jamben an Wilhelm Lübke.


Für würdigen Inhalt ging ich heute formsuchend

Hoch in der Musen vollgestopfte Dachkammer,

Wo die Modele stehn von allen Versmaßen.

Unübersehbar schien der bunte Wirrwarr mir.

Hier standen der Antike Metra reih'nweise:

Gewichtiger Chorgesänge schwere Grundrythmen,

Dann Odenkrams verhundertfachte Nachbildung,

Senare dort; daneben gleich, zur Abschreckung,

Des zopfigen Alexandriners Pfuschmachwerk;

Ganz Rom und Hellas, bis zum letzten Sechsfüßler.

Nach diesem, mittelalterlich mit Vierstabung

Allitterirenden Urgesangs Granitblöcke;

Dann Nibelungenstrophenbauwerks Spitzbogen,

Voll gothisch hoch erhabner Heldensteinbildung;

Dazu der ganzen Minnedichtung Verskränzlein

Und Sprachfigürchen in reizumblühter Vielfachheit.

Dann kam handwerklichen Meistersangs Holzschnitzwerk,

Sehr eulenspiegelscheckig, aber grundehrsam,

Durchgängig doch urvätermöbelwurmstichig.

Und immer mehr! Dort stehn in Renaissancegrazie

Romanischen Geistes zierlich feine Formspiele.

Hier des Terzinengangs Reliefbild, friesartig

Dahingedehnt:, dort der Ottaverime schalkhaftes

Amorettenbüstenvölkchen; endlich unzählbar

Sonnettengefäß und Schalen höchster Formfeinheit.

Sogar des maurischen Stils Gaselenlaubwerk war

Einreimig ausgestellt zur Wahl nur. – Da stand ich,[57]

Und sah und sah, und weilte, gänzlich unschlüssig,

In welch Gehäus des tausendfachen Formreichthums

Ich kneten sollte die Gedankenthonmasse

Zum Wiegenlied dem formverständigen Kunstfreunde.

Bis endlich, unten tief im letzten Staubwinkel

Die mächtige Form ich sah von Pindars Festhymnen.

Entschlossen, scheu' ich nicht das schwierige Durchkriechen

Durch aufgestapelt tausendjährige Verstrümmer,

Hervorzuziehn den Fund. Da – bricht, der Hauptstütze

Beraubt, von allen Brettern des Parnaßgiebels

Das ganze Formeninventar mit Staubwolken

Und Krachen über mir zusammen! Todähnlich

Erschrocken, halb erdrückt, erstickt, voll Quetschungen,

Tauml' ich bei Seit', erreich' die Thür, zurückgreifend

Nach einem Ersten Besten, um doch nutzlos nicht

Und völlig beutelos zu flieh'n, komm' hinkend

Hinab – was hab' ich? Ach, ein Bündel Hinkjamben!

Von all der Herrlichkeit den letzten Ausschuß nur!

O Freund, so kommt der Inhalt meines Festliedes,

Erdrückt von Formvollendungsstudien, nachhinkend!

Nun, mag's! Und hinkte gleich die ganze Bildreihe –

Sind Bild doch und Vergleiche selten zutreffend!

Du aber, der aus halbverlornen Formtrümmern

Des Grundgedankens Urgestalt und Ausprägung

Weißt zu ergänzen auf historischer Grundlage,

Wirst auch aus diesen Hinkejamben freundschaftlich

Zusammenconstruiren dir die Fest-Ode.

Schlag' in die offne Hand, die sich dir darbietet,

Und laß es unter uns beim Alten stets bleiben!


Quelle:
Otto Roquette: Gedichte, Stuttgart 31880, S. 56-58.
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