Meine Kunst

[49] Du, meine Kunst, hast durch das Leben

Als holde Gottheit mich geführt!

Von dir allein ward mir gegeben,

Was mich als Freud' und Glück berührt.

Durch dich empfing ich Kraft und Willen

Mir selbst zu bilden meine Welt,

Und die ich mir erschuf im Stillen,

Hast du mit heil'gem Strahl erhellt.


Vom ersten Stammeln, da der Knabe

Die flüch'gen Reime kaum erhascht,

Empfand er, daß der Dichtung Gabe

Wie Seligkeit ihn überrascht.

Sie war's, die auch ein hartes Ringen

Mit mächtigem Gefühl verwob,

Wie, wenn im Hoffen auf Gelingen

Aufathmend sich die Seel' erhob.
[49]

Wo Menschen mich und Welt bedrohten,

Ich wußt' in unverrücktem Gang

Des Lebens Würde mir geboten

Zum Schaffen, Bilden und Gesang.

So fühlt' ich, frei von Groll und Hassen,

In dir mich meiner selbst bewußt,

So durft' ich dich als Höchstes fassen,

Als Eigenstes in meiner Brust.


Von einem einz'gen Wunsch umfangen

Ist so mir alles Daseins Werth:

Daß unverlöscht für mein Verlangen

Du leuchtend bleibest meinem Herd!

Daß, wie von heil'gem Opferrauche

Verhüllt, ich noch in deiner Gunst

Den letzten Athemzug verhauche,

Von dir beseelt, du meine Kunst!


Quelle:
Otto Roquette: Gedichte, Stuttgart 31880, S. 49-50.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Gedichte
Der Tag Von St. Jakob: Ein Gedicht (German Edition)