Recht um Recht

[60] Viel Ungeheures wagt der Mensch. Um Eisen

Und Gold im Erdenschooß wühlt er sich Bahn,

Und droben, wo im Blau die Adler kreisen,

Sehn Eisesfirnen ihrem Thron ihn nahn.

Das fernste Meer mit ersten Wellengleisen

Macht er sich dienstbar, trotzend dem Orkan,

Und was Jahrtausend' und Natur geschieden

Läßt für das Dampfroß er zusammenschmieden.


Was ist Gefahr ihm? Bis zum Meeresgrunde,

Der Perlenmuschel nach, wagt er sein Heil,

Und taucht zum Licht empor mit seinem Funde.

Und wo des Nordens Felsenwände steil

Und pfadlos ragen an der Brandung Schlunde

Läßt er hinab sich an dem schwanken Seil

Zum Dunenneste wilder Vögelbruten,

Umgähnt, umdonnert von des Abgrunds Fluthen.


Doch das verwegenste von allem Wagen

Ist, daß der Mensch sein Innerstes nicht scheut

Der tausendköpfigen Menge vorzutragen,

Daß er sich selbst in seinem Werk ihr beut.

Wenn Wasser über ihm zusammenschlagen,

Der Fels ihn hinrafft, wie der Sturz ihm dräut,

Kein Vorwurf wird des Muth'gen Tod erreichen,

Doch der Lebend'ge fürchte Seinesgleichen!
[61]

Vom Hohn gezeichnet ist der Ueberkühne,

Der seiner Phantasie zu viel vertraut;

Verspottet, wenn sein Werk er auf der Bühne

Zu leicht für die enttäuschte Schaar gebaut;

Grausam und unerbittlich wird die Sühne

Für seines Sanges mißgestimmten Laut.

Wenn viel des Guten schwindet im Gedächtniß,

Ein Fehltritt bleibt ein dauerndes Vermächtniß.


Was treibt den Schaffenden zu höchstem Wagen?

Er glaubt an der Nothwendigkeit Gebot.

Sein Recht ist Recht, und weiß sein Werk zu sagen

Von höchstem Können, bleibt es unbedroht.

Vergessen will das Denken und Behagen

Des Werdens Ringen, des Gestaltens Noth.

Recht steht um Recht. Fühlt sie sich überlegen,

Giebt dir die Menge fürchterlichen Segen!


Doch sei sie grimm und noch so scharf im Höhnen,

Zu fesseln leicht ist selbst ihr Widerstand.

Es lebt ein Zug zum Edlen und zum Schönen,

Auch da, wo Großes fremd und unbekannt.

Berührst du den auch nur mit leisen Tönen,

Ist das Erwachen ganz dir zugewandt.

Sie wird dich deines Rechtes nicht berauben,

Giebst du ihr erst das Recht, an dich zu glauben.


Quelle:
Otto Roquette: Gedichte, Stuttgart 31880, S. 60-62.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Gedichte
Der Tag Von St. Jakob: Ein Gedicht (German Edition)

Buchempfehlung

Ebner-Eschenbach, Marie von

Der gute Mond / Er laßt die Hand küssen / Ihr Traum. Drei Erzählungen

Der gute Mond / Er laßt die Hand küssen / Ihr Traum. Drei Erzählungen

Drei Erzählungen aus den »Neuen Dorf- und Schloßgeschichten«, die 1886 erschienen.

64 Seiten, 4.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon