Die verstehende Seele

[6] Die Sonne ging zu Rüste schier,

Da kam ich spät in mein Quartier

Mit müdgelaufnen Füßen.

Frau Wirthin stand wohl vor der Thür,

Sie hatt' eine blaue Schürze für,

Sie thät so freundlich grüßen.


»Grüß Gott, Er wandernder Gesell,

Tret' Er nur über meine Schwell',

Die Ruh soll Ihm bekommen!«

Schön Dank, schön Dank, Frau Wirthin mein,

Ihr Häuslein hat gar saubren Schein,

Kann auch Ihr Wein mir frommen?


»Mein Wein ist pures Rebennaß,

Ich schenk' ihn roth, ich schenk' ihn blaß,

Doch sag' Er mir nur Eines:

Ist blond Sein Schatz, oder ist er braun?

Und sagt Er mir's, so weiß ich traun

Die Farbe schon des Weines!«


Frau Wirthin, Sie ist flink und klug,

Dazu auch jung und hübsch genug,

Sie wird mich recht verstehen:

Was man so recht im Herzen hält,

Das sagt man nicht der ganzen Welt,

Ihr wird es auch so gehen!
[7]

Frau Wirthin warf das Aug' herum,

Und lächelt süß, und lächelt stumm,

Und thät zwei Becher bringen:

»Dies Weinchen hatt' ich still verwahrt,

Bis daß nach seiner Wanderfahrt

Mein Schatz mich thät umschlingen.«


»Doch Er soll's trinken heut mit mir,

Dieweil versteh'nde Seelen wir,

Ich geb's umsonst und gerne!« –

Ich aber dacht' in frohem Muth,

Ach hätte doch jede Frau Wirthin gut

Einen Schatz in weiter Ferne!


Quelle:
Otto Roquette: Gedichte, Stuttgart 31880, S. 6-8.
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