Abendstille

[121] Kein Segel mehr in blauer Bucht,

Das letzte Schiff im Hafen,

Der Vogel kehrt' in Abendflucht

Zum Felsenneste schlafen.

Ein spätes Lied nur leise mag

Noch heben seine Schwingen,

Von einsam schönem Wandertag

Den Nachklang auszuklingen.


Zur Ruhe spannt so hoch und fern

Sich aus der Sternenbogen,

Zur Ruhe winkt, ein Erdenstern,

Der Leuchtthurm auf den Wogen.

O goldne Ruh, du Himmelsgast,

Nun kommst du hold zu trösten,

Zu einen, die von Tageslast

Ermüdeten, Erlösten!


Im Fischerdorfe längst schon ruht

Der Alten Haupt im Pfühle,

Doch laut noch pocht das Jugendblut

Und sucht die Abendkühle.

Von Haus zu Hause schleicht die Lieb'

Auf still verstohlnen Füßen,

Die Stunde, die der Ruhe blieb,

Noch doppelt schön zu grüßen.
[122]

Woher, o Herz, der Wehmuth Spur?

Wohl war der Tag nicht einsam,

Doch Abendruh erquicket nur

Von Herz zu Herz gemeinsam.

Was ungetheilt im Innern klang

Flieg' hin im Lied', und frage

Ob einsam ein Gemüth dem Sang

Ein still Willkommen sage?


Quelle:
Otto Roquette: Gedichte, Stuttgart 31880, S. 121-123.
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