1. Gesang vom Berge

[144] Hier oben unter dem Waldesbaum

Zu Thale schaut man nieder,

Und hochhin, wo im Himmelsraum

Der Adler wiegt das Gefieder.

Du Sonne, gieb noch hellen Schein,

Die Welt will noch nicht schlafen!

Dem Schifflein drunten auf dem Rhein,

Dem leuchte noch zum Hafen!


Hier oben zwischen Laub und Gras,

Mit Kränzen, frisch gewunden,

Wie leicht und schnell das Herz genas

Von schwülen Tagesstunden!

Du Sonne, schau, dort schreitet im Thal

Ein müder Wandergeselle,

O leucht' ihm noch mit einem Strahl

Zu seiner Ruhestelle!
[145]

Wir aber Zwei, wir haben's gut,

Wir mögen fröhlich singen,

Dieweil die Welt bedeckt schon ruht

Von grauer Dämmrung Schwingen.

O Sonn', hast du dich still und sacht

Verhüllt in blauen Fernen,

So singen wir noch der Frühlingsnacht

Mit ihren tausend Sternen!


Quelle:
Otto Roquette: Gedichte, Stuttgart 31880, S. 144-146.
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