14. Rosendorn

[168] O holde Zeit, da noch die Hand

Um Wunden bangt vom Rosendorn!

Da, mit sich selber unbekannt,

Das Herz entbrennt in kleinem Zorn!

Und dennoch mag vom Rosenstrauch

Mit banger Lust die Hand nicht lassen.

So war seit alter Zeit der Brauch

Bei Buben und bei Mädchen auch.


O harte Noth um einen Blick!

O Haß um eines Kusses Raub!

Es braucht das Herz sein Mißgeschick,

Und hofft sich der Versöhnung taub.

Wo Feuer brennt, da giebt es Rauch,

Und Jugend spielt mit Feuer gerne.

So war seit alter Zeit der Brauch

Bei Buben und bei Mädchen auch.


Und hat der Groll recht wild gezehrt,

Und hat man bitter sich geplagt,

Dann kommt ein Seufzer, tief beschwert,

Ein Blick, der wieder fröhlich wagt.[169]

In Blüthen steht der Rosenstrauch,

Es spotten Herz und Hand der Dornen.

So war seit alter Zeit der Brauch

Bei Buben und bei Mädchen auch.


Quelle:
Otto Roquette: Gedichte, Stuttgart 31880, S. 168-170.
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