15. Letztes Hoffen

[170] Sind es Herbstesfarben schon,

Die im Laub erglühten?

Ach, wie ist die Zeit entflohn,

Seit die Reben blühten!

Sommerzeit wie schienst du lang,

Da das Herz voll Hoffen!

Nun du scheidest, fragt es bang,

Was ihm eingetroffen?


Wilder Vögel Wanderzug

Prüfet schon in Schaaren

Seiner Schwingen jungen Flug,

Ueber's Meer zu fahren.

Wer da bleibt im engen Thal,

Mit der Welt im Streite,

Möchte schwingen auch einmal

Flügel in die Weite!


Doch bevor der Traube Last

Folgt den Blätterhüllen,

Kann sich, was ein Wunsch erfaßt

Noch vielleicht erfüllen![171]

Herz, es sei genug verzagt!

Eh der Herbst vergangen

Wirst du, wie dein Hoffen sagt,

Noch ein Glück empfangen.


Quelle:
Otto Roquette: Gedichte, Stuttgart 31880, S. 170-172.
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