Ein reisender Handwerksbursch.

[30] Nun muß der lange Christian aus alter Erinnerung hervorgeholt werden.

Der schob eines Tages die Tür unserer Meisterstube so weit auf, daß er seinen kleinen Kopf hereinstecken konnte: »Ein reisender Handwerksbursch bittet gar schön...«

Der Meister steckte alle zwei Hände in die Hosentaschen und fragte: »Was ist Er denn?«

»Ein vazierender Schneidergesell', bitt' ich.«

»Wesweg steht Er nicht in Arbeit ein?« sagte der Meister, und die rechte Hand fuhr unverrichteter Dinge aus dem Sacke zurück.

»Ich bitt', weil ich keine krieg'. 's ist schon überall alles voll von Schneidergesellen.«

Jetzt kam auch die Linke des Meisters, auf die alle Hoffnung gesetzt war, leer aus der Tasche, und der Meister sprach: »Wenn Er will, bei mir hat Er gleich Arbeit. 's ist der Winter da, die Leut' brauchen Gewand.«

Der Handwerksbursche sah, daß er aufgenommen war, mit saurem Gesichte trat er in die Stube; er war länger, als dem hereingesteckten Kopfe nach vermutet werden konnte, und es hing an dem ältlich und gutmütig aussehenden Kopfe ein ziemlich zerfetzter Schneider. Der Meister selbst schien von dem Aussehen seines neuen Gehilfen etwas überrascht zu sein. Das Wanderbuch war aber befriedigend, es stand zwar wenig Arbeit drin, aber diese wenige war durchaus belobt.[31]

»Wo hast denn deinen Ranzen, Christian?« fragte jetzt der Meister.

»Meinen Ranzen? Warum?« versetzte der Geselle mit Befremdung, »brauch' keinen.«

»Du wirst doch eine gute Kluft (guten Anzug) bei dir haben?«

»Soweit ja,« sagte der andere und blickte an sich hinab bis zur Zehe, die aus dem Stiefel hervorguckte, »bin zufrieden, bin alleweil zufrieden.«

»Ruck', Lehrbub, daß er sich setzen kann!« Diese Worte des Meisters waren zu mir gesprochen, und einige Augenblicke später saß der schlottrige Geselle an meiner grünen Seite und sah den Meister ungewiß an, als wollte er fragen, welcher Hausbrauch hier herrsche, ob der Lehrjunge gelegentlichenfalls bei den Haaren oder bei den Ohren zu fassen wäre. – Als er später die gutherzige Weise merkte, in welcher mein Meister mit mir verkehrte, sing auch er an, genossenschaftlich zu sein, heißt das, er bemängelte mir gegenüber die Pflege, welche man uns angedeihen ließ und belustigte sich über den Meister, wenn dieser abwesend war. Ich war für solche Beweise des Vertrauens dankbar, hütete mich aber, dieselben zu entgegnen, sondern tat, wie einem Lehrjungen geziemt: hielt die Ohren offen und den Mund zu.

Nur die Nächte waren nicht ganz ohne Zwiespalt. Zuerst hieß es, ich möchte mit dem neuen Gesellen mein Bett teilen; nur zu bald stellte es sich heraus, daß er nach Gutdünken mit mir teilte, aber so, daß der größte Teil mit Leintuch, Decke und Kopfkissen ihm zufiel. Er lag an der Wand, nur zu Regenzeiten tauschten wir die Plätze, weil an der Wand das Wasser herabrann.[32]

Solange ich wachte, beschied ich mich, aber während ich schlief, taten Arme und Beine im Kampf ums Dasein manches, was hernach von seiten des langen Schlafgesellen ein anderer, ganz unschuldiger Teil des Körpers arg entgelten mußte.

Trotzdem waren wir stets gut Freund, was mir um so erfreulicher schien, als die Erhaltung dieses schönen Verhältnisses ganz in meiner Hand lag. Gab ich in allem nach, so war ich gesichert, und er verlangte nichts Unbilliges von mir, denn im Leben eines Lehrjungen ist alles billig. Zudem besaß der lange Christian einen unschätzbaren Vorzug, nämlich er log – und log, daß es eine Passion war. Wer nie sein Brot als Schneider aß, wer nie die halben Winternächte bei Loden und beim Zwirne saß! – – Was da ein gutes Plaudermaul für ein Kleinod ist! Der lange Christian hatte den Krimkrieg mitgemacht, hatte bei der Revolution eine Rolle gespielt und das keine kleine, denn er war Kossuths Stiefelwichser gewesen. Denn warum? Er hätte es zu ganz was anderem bringen können, aber der Kossuth hatte gesagt: »Loß ich nicht aus, Schwob. Brauch' ich zum Wichsen.«

»Sei jetzt still und tu nah'n!« verwies ihm der Meister bisweilen solch geschichtliche Darstellungen.

»Warum soll ich's denn nicht sagen?« meinte hierauf der Christian immer, »es ist ja so alles nicht wahr.«

Und hub wieder von neuem an.

»Und wenn ich auch hätte dabei sein können,« fuhr er fort, »ich hätte nicht einmal mögen. Da mag einer sagen, was er will, mir geht das Reisen über alles. Das Reisen als Schwalier, natürlich.«

»Jetzt sei still und tu nah'n!« gebot der Meister streng.[33]

Da war er still und tat nähen, und ich ermaß traurig, wie hier die schönsten Reisen und alle Weltwunder schnöde unterdrückt wurden. Ein Gefühl der Bitterkeit wurde in mir gegen den Meister wach. Wenn dieser aber abwesend und wir in der Werkstatt uns selbst überlassen waren, dann wurde alles nachgeholt; bald wurde ich inne, daß der lange Christian auch bei der Entdeckung Australiens dabei gewesen war.

Auf einem Luftballon wären sie hingekommen. – »Geht auf einmal nieder. Auf den Bäumen lauter Schlangen und Paradiesäpfel; Weinberge, wo auf den Reben die Kaffeebohnen wachsen und der Wein rinnt in Brunnen unter der Erde heraus. Löwen und Tiger, selbstverständlich alle besoffen, darum sind die australischen so gefährlich. Und sind auch große Pappeln, denen auf und auf die Wolle wächst und müssen im Frühjahr und Herbst geschoren werden. Das ist die Baumwolle. Und lauter so! Die Leut' sind alle schwarz über und über und brauchen daher keine Kleider. Was ist denn das für ein Land? fragen wir. Antwortet ein Schwarzer: I bitt', das ist Australien.«

Als ich anfangs an einzelnem zweifelte, rief er: »Na ja freilich, bei euch heißt's allerweil: erlogen, erlogen! Das bissel erlogen wird dich doch nicht genieren! Wenn's d'netta alles wahr sein sollt', na bedank' mich, da möchtest saubere Sachen hören. So tapfer wie der Christian, der itzo neben deiner schneidert, hat keiner gefochten!«

»Soldat?«

»Soldat! Gott sei Dank, nein. Ein Fechtbruder bin ich gewesen und wollt', ich wär' es heute noch!« Er seufzte und zog melancholisch einen langen Faden vom Zwirnknäuel.

Meine Bemerkung darauf mußte der Stimmung des[34] Augenblickes nicht ganz gerecht gewesen sein, denn er beugte sich weit gegen mich vor und sagte nach drücklich genug: »Du bist ein junger Lecker, daß du's weißt!«

Ließ ihm's gelten, und so waren wir wieder einig.

»Bist du erst ausgelernt, wirst es auch treiben,« versicherte der Christian. »Was ein ordentlicher Handwerksbursch ist, der geht fechten. Blitzdumm seid ihr Jungen anfangs schon dabei, das ist richtig, und wenn man euch nicht aus Erbarmen zeitweilig was tät' schenken, ihr müßtet verhungern wie die jungen Kälber, wenn sie nicht genudelt werden.«

»Möcht' wissen, wesweg man euch Alten was schenkt, wenn nicht aus Erbarmen!« erlaubte ich mir zu bemerken.

Er krähte laut auf und rief dann: »Das kostet mir einen Lacher! Und aus Erbarmen, wie einem Bettler! Junge, dir fehlt es an Unterricht! Wenn wir Handwerksburschen fechten, so heißt das nagelfest nichts anderes, als wir heben unsere Gebühr ein. Es ist ein Recht von alters her. Sie alle, die Herren Professionisten, die heute prächtige Häuser stehen haben an den Straßen, sie alle haben einstmals gefochten, und tüchtig gefochten. Und wenn du nicht weißt, wozu sie an ihren vornehm geschnitzten Haustüren die Klinken haben, so will ich dir's sagen: daß unsereiner draufdrucken kann, so wie's neuzeit Haustelegraphen gibt, wo der Herr nur zu drucken braucht und die Dienerschaft steht da. Wenn wir dabei den Hut in der Hand halten und freundlich bitten, so ist das Höflichkeitssache, denn der Fechtbruder muß Schwalier sein!«

»Redlich gesagt, aber,« fuhr der lange Christian fort, »die Professionisten, die selbsten haben schnallendruckt, das sind die schmutzigsten. Zu hart Kräften ein ganzer[35] Kreuzer, wenn sie keinen halben im Sack finden, und verstatten sich des lumpigen Kupferlings wegen schon das Recht, das Wanderbuch eine Weil' durch ihre feisten Finger zu wutzeln, oder gar etlich' Sottisen loszulassen, als wär' ein ehrlicher Bursch just ihrer Grobheiten willen auf der Länderpassier. – Überhaupt, Lehrbub, merk' dir's: was an der Straßen steht, heißt nicht viel. In die Seitendörfer muß einer sich schlagen, in die Berggräben muß man hinein, das lohnt sich. Kannst das Mundstückel brauchen, machst den Weibern was vor – lebst wie ein Prinz. Aber nur nicht vergessen, den Finger schön ins Weihbrunnkesserl tauchen, wenn du bei der Tür hineingehst. Steht vor dem Hause, wo die Leut' vom Fenster hinsehen, ein Kruzifix, oder so was, nur fleißig den Mund draufdrucken. Frommheit lohnt sich immer. Bleibst über die Nacht und sitzest auf der Ofenbank, so verzählst was; je größer die Lug ist, je lieber glauben sie's, je gewisser laden sie dich zu ihrem Nachtmahl ein. Mit dem Bauer hebst fürs erst' vom Wetter an; ist trockene Zeit, so gibt's guten Kornbau, ist Regenwetter, so gerät das Futter fürs liebe Vieh. Der Köchin vertraust, du hättest auch schon etwelches verkostet auf dieser Welt und wüßtest, was gut sei, aber so ein Schmalzmus, oder was es ist, wär' dir bislang noch nicht in den Mund gekommen. Wirst sehen, nach solcher Red' wird dein Essen zusehends vermehrt und verbessert. Sind Knaben im Haus, so machst ihnen Vogelsangen, Fischfangen und so was. Mit den Mädeln, und sind sie auch erst halbgewachsen, kann man vom Heiraten reden. Rastest dich tagelang aus und wirst sehen, wie erträglich die Zeit vergeht.«

Darauf erwiderte ich einmal dem langen Schneider:[36] »Freilich vergeht die Zeit, wenn der Reisende so von der Straße abweicht, aber wann kommt er nachher aus Ziel?«

Er ließ die Nadel stecken, wo sie stak und fragte: »An welches Ziel?«

»Wo er Arbeit kriegt.«

Jetzt stützte er seinen spitzen Ellenbogen aufs spitze Knie und sagte: »Was glaubst denn du eigentlich von einem Handwerksburschen? Meinst, er passiert die Länder, daß er Arbeit sucht? Für was stünd' er denn drei Jahr' und länger in der Lehr' und ließ' sich zum Fußhadern brauchen, wenn er nachher kein reisender Handwerksbursch werden wollt'? Jetzt haben wir die Eisenbahnen. Nichts leichter, als aus Ziel zu kommen und Arbeit zu finden. Aber kannst du dir einen reisenden Handwerksburschen denken, der auf der Eisenbahn fährt? Für was, möcht' ich bitten, werden denn neben den Eisenbahnen hin die alten kostspieligen Landstraßen erhalten, als wie für den Handwerksburschen? – 's ist ein Pläsier, kann ich dir sagen, wie kein zweites auf der Welt. Und schon gar in einem Ort, wo an jedem End' die Tafel steht: Hier ist das Hausieren verboten! – Wie sich's da ficht! Lehrbub, du weiß noch nichts.«

»Weshalb ist denn der Christian hernach bei uns eingestanden?«

»Das ist's ja,« flüsterte er, »hab' ich vor der Tür wissen können, daß ich vor einer Schneiderwerkstatt steh'? Nicht einmal ein Schild! So gescheit wäre ich schon gewesen, daß ich alsdann als Tischler oder Schuhmachersgesell' angeklopft hätte'. Und just dasmal ist's nicht erlogen gewesen, akkurat, daß ich ein Schneider muß sein! Dein Meister hat mich frei so viel, als in meinen eigenen[37] Worten gefangen. Andersteils weil jetzt Winter ist und der Mensch seinem Brot nicht gut nachkommen kann, will ich's auf etliche Wochen gleichwohl aushalten. Ein rechter Bursch' muß alles probieren auf der Welt.«

– Auch das Arbeiten! hatte er in Gedanken sicherlich beigesetzt. Übrigens war der Christian in der Arbeit flink, wenn auch zuweilen ein kleiner Schlendrian mit unterlief. Letzteres rügte mein Meister eines Tages auf Umwegen, indem er sagte: »Lehrbub, für Geschwindigkeit nimm dir ein Beispiel an Christian, für Genauigkeit an mir.«

Abends während der Lichtfeier – das ist die Stunde der Dämmerung – war der lange Christian unsichtbar. Erst knapp vor dem Lichtanzünden erschien er wieder und ging mit frischer Lust an die Arbeit.

Da stupfte einmal der Bauer, bei dem wir auf der Ster saßen, meinen Lehrmeister an der Seite, er möge so gut sein, ein »Randel« mit ins Nebenstübel zu kommen, er habe ein klein wenig was zu reden. Und im Nebenstübel soll denn der Arbeitsgeber zum Meister folgenderweise gesprochen haben: »Wenn euch Schneidern bei uns die Kost zu schlecht ist, so tut es mir nur sagen; es ist mir lieber, als wie wenn ich vor der Nachbarschaft zuschanden gemacht werde.«

»Wie denn das?« entgegnete der Meister und sah den Bauer groß an, »die Kost zu schlecht? Bei dir? Doch gar keine Red' von so was. Alles gut und genug.«

»Ja,« sagte der Bauer, »zuweg geht denn nachher dein Gesell zwischen der Lichten in die Nachbarschaft betteln?«

Der Meister wurde ganz blaß vor Schreck.

»Sie reden schon überall davon, daß der Niederberghofer[38] seine Schneider verhungern ließe, und der Gesell', wenn's dunkel wird, mit dem Brotsack ausschleiche. Wenn's so ist, habt ihr bei mir ausgearbeitet.«

Ohne ein Wort der Entgegnung rief der Meister den Christian ins Stübel.

»Möcht's frei wissen, Christian, was du zwischen der Lichten allemal machst?« fragte er mit düsterem Ernste.

»Ich? – Ein bissel in der Nachbarschaft geh' ich um, daß ich mich nach dem langen Sitzen eppas ausspring'.«

»Und tragst den Leuten das Brot stückweis aus dem Haus!« sagte der Bauer.

»Warum denn nicht,« antwortete der lange Christian, »ich bitt' ja schön drum und nachher verschenk' ich's wieder. Bei dir, Niederberghofer, hab' ich's gottlob nicht vonnöten.«

»Zu was tust es denn nachher, du alter Steinesel?« rief der Meister mit allem Zorne, dessen er fähig war.

»Weil's mich g'freut,« sagte der Geselle, »und wenn's dem Meister nicht recht ist, so kann er sich's recht machen. Wir sind nicht zusammen verheiratet. Ich mach' mich fremd.«

Mit diesen Worten sagte er die Arbeit auf.

Voller Innigkeit nahm er von uns Abschied, nachdem er mich noch eingeladen hatte, mitzukommen. Ich begleitete ihn vor das Haus und sah ihm nach. Schon an der nächsten Tür drückte er die Klinke nieder und mit einem Gesichte, das vom Glücke erhellt war, murmelte er sein: »Ein reisender Handwerksbursch' bittet gar schön...«

Quelle:
Peter Rosegger: Waldheimat. Band 3: Der Schneiderlehrling, Gesammelte Werke von Peter Rosegger, Band 16, Leipzig 1914, S. 30-39.
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