Die Geschichte vom Schlüssel.

[277] Sind jetzt vor etlichen Jahren Schweizer in die Waldheimat gekommen, haben die Wälder erworben, sind aber, ohne sie auszurotten, wieder verzogen. Doch haben sie ein Denkmal zurückgelassen, das sein ist. Auf einer Anhöhe, die mitten aufragt, ringsum die Waldberge, die Almen, haben diese Schweizer eine Aussichtswarte gebaut. Diese ist so hoch, daß sie einen großen Fernblick bietet und auch einen guten Rückblick in die Vergangenheit. Letzteren freilich nur für mich.

An der Stelle, wo diese Warte steht, in Moos und Heidekraut, muß ich einst den Schlüssel verloren haben. Den Schlüssel zu meinem Schatz.

Diese kindische Geschichte aus der Kindheit muß ich ja erzählen. Auf der Warte rücklings liegend, um mich nichts als Himmel, sehe ich sie deutlich.

In der großen Stube meines Vaterhauses stand ein braunes Winkelkastel, das sich dreieckig in den Wandwinkel schmiegte. Es hatte drei Fächer und ein Lädchen, in denen ich meine Schätze barg. Es waren ganz besondere Sachen, wie sie kein anderer Bewohner des Waldbauernhauses aufzuweisen hatte. Besonders hervor leuchtete ein runder Taschenspiegel aus verzinntem Blech, aber ohne Glas. Eine Mundharmonika, der einige Kläppchen, und ein altes Kartenspiel, dem einige Blätter fehlten.[278]

Ein weißbeschaltes Taschenmesser, an dem die Klingenspitze abgebrochen war, ein stählernes Pfeifenbeschläge ohne Pfeife und ein ganzes Säckchen voll Messingknöpfe ohne Hafteln. Wie man möglicherweise merkt, hatten die Dinge einige Mängel, aber es ist zu bedenken, daß ich gerade diesen Mängeln ihren Besitz verdankte. Es war eine wertvolle Sammlung unbrauchbarer Dinge. Zudem hatten die »Messingdukaten« echten gegenüber den Vorteil, daß einem nicht leid zu sein brauchte, wenn man einmal einen verlor. Wir tat's aber doch leid, ich hätte am liebsten allen meinen Hosenknöpfen die Hafteln abgerissen, um den Dukatenbesitz zu vermehren. Zudem hatte ich in diesem Kastel noch andere Schätze, die den genannten an Wert nicht nachstanden. So etwa die dünnen, mit festem Zwirn zusammengenähten Papierhefte, in welche der kleine Bub schon was hineingedichtet hatte. Sonntags brachte mir der Vater vom Kirchgang manchmal eine Semmel heim, die verwahrte ich sofort in meinem Winkelkastel und behielt sie dort so lange auf, bis sie steinhart war, dann aß ich sie.

Die Tür des Kastels hielt ich natürlich stets zugelehnt und ließ niemanden gern hineinschauen. Die Tür hatte ein Eisenschloß, das ganz gut gesperrt haben würde, wenn es einen Schlüssel gehabt hätte. Aber es hatte keinen Schlüssel. Der mußte verloren worden sein schon vorzeiten, ich hatte ihn nie gesehen. Seit Menschengedenken war das Kastel unversperrbar und ich mußte alle meine wunderschönen Sachen vor aller Welt offen halten. Es war mir zwar nie das mindeste abhanden gekommen, mit Ausnahme von ein paar Dukaten, die ich beim oftmaligen Zählen verloren hatte. Meine jüngeren Geschwister[279] zeigten sich zwar manchmal habgierig gegen manches besondere Glanzstück. Der Jackerl schreckte auch vor Gewalt nicht zurück, wenn es ihm nach der zahnschartigen Mundharmonika gelüstete. Das Gewahrsam des Kastels aber respektierten sie. »Das ist dem Peterl sein Kastel, da darf man nichts herausnehmen.« Hielt es doch auch ich mit ihrem Eigentum so. In gemeinsamer Anwesenheit wurde gerauft um die Sachen, doch hinter dem Rücken des Eigentümers waren sie sicher.

Und dennoch stand mein Denken und Plangen nach einem Schlüssel. Der umgedreht und abgezogen in den Sack gesteckte Schlüssel sollte nicht bloß das unversehrbare Siegel auf mein Besitztum bedeuten, es sollte vielmehr auch noch sein, als ob ich mit dem Schlüssel gleichsam alle meine Schätze in der Tasche mit mir herumtrüge. – So lange betrieb ich die Sache, bis auf Zureden der Mutter eines Tages der Vater das Schloß vom Kasteltürchen löste und es auf seinem Kirchgange mit nach Krieglach nahm, um dort beim Schlosser einen Schlüssel dazu machen zu lassen.

Seit der Taschenfeitelgeschichte war ich nicht mehr in einer so gespannten Erwartung als an jenem Sonntag. Es war Herbst, ich hatte in der Talwiese beim Bache das Vieh zu hüten. Sonst pflegte ich bei diesem Hirtenamte im Wasser den Fischen nachzuspähen, wie sie von Stein zu Stein oder von Uferrasen zu Rasen hin und her glitten, legte mich wohl gar auf den Bauch hin an den Bach und sing mit der Hand manche Forelle unter dem Rasen hervor. Machte dann ein Feldfeuer an, bereitete die Fischlein zu und briet sie an der Glut. Wobei diese Arbeiten weitaus genußreicher waren, als nachher das Essen des[280] halbverbrannten Fischfleisches. An diesem Sonntage aber gab es keinen Bach und keine Forelle und kein Feldfeuer. Gab es nur einen steinigen, wasserdurchwaschenen Fahrweg, der über die Wiese hereinzog und auf welchem mein Vater von Krieglach kommen mußte mit dem Schlüssel. Er kam sehr lange nicht, doch endlich – es war schon Abend – sah ich seine Gestalt zwischen den Erlen herangehen. Aber er hatte keinen Schlüssel. Der Schlosser hatte gesagt, vor acht Tagen könne er ihn nicht machen. Mir ward auf solchen Bescheid übel bis in den Magen hinab. Wie soll jetzt wieder eine Zeit kommen ohne Schlüssel! – Die Ungeduld ist überhaupt oft mein peinigender Gesell' gewesen. Sie hat mich manche harmlos schöne Stunde übersehen, versäumen lassen, weil diese nicht just das brachte, was ich erwartet hatte. Übrigens ist jene Woche ganz glatt vergangen auch ohne den Schlüssel. Am nächsten Sonntag war der Knecht auf dem Kirchgang. Schon am Freitag begann ich, ihm aufzutragen, ja gewiß zum Schlosser hinzugehen; am Samstag gab ich ihm schon die zwei Sechser; soviel ungefähr konnte der neue Schlüssel kosten. Am Sonntag kam der Knecht beizeiten heim. Er setzte sich zu seinem ihm aufbewahrten Mittagsmahl und aß empörend gleichgültig wie jeden Tag und – sagte nichts. Mit zuckendem Atem fragte ich ihn endlich nach Schloß und Schlüssel. Da tat er gelassen sein Ledertäschchen aus dem Sack, kletzelte die zwei Sechser hervor und legte sie auf den Tisch. Auf den Schlosser habe er vergessen. – Mir war hilflos zum Verzweifeln. Totschlagen konnte man diesen Knecht nicht, ja nicht einmal ihn einen Todel schimpfen. Er hatte die Gewohnheit, in Fällen, als der kleine Bub sich ihm[281] gegnerisch zeigte, denselben bei den Ohren zu nehmen und zu schütteln. – Nun verstrichen zwei Wochen, bis wieder jemand aus unserem Hause nach Krieglach ging. Das war diesmal die Weidmagd. Weiberleute sind immer verläßlicher. Ich konnte sicher sein, heute bekam ich den Schlüssel. Ich bereitete schon den Hammer vor und die Eisennägel; deren sechs mußten sein, um das Schloß sofort aus Kastentürlein zu schlagen. Dann den Schlüssel anstecken, umdrehen, abziehen und an der Tür rütteln, um zu sehen, daß sie nicht ausgeht. Es wunderte mich, daß an diesem Tage im Hof alles seinen gewöhnlichen Trott ging und sich nicht schon die ganze Welt auf das Ereignis zuzuspitzen begann. Je tiefer es in den Nachmittag ging, je unbändiger ward mein Herzschlag. Ich konnte nicht mehr stehen und nicht mehr sitzen, nur immer aus und ein gehen nach dem Wiesenwege und berechnen, wo die Weidmagd unterwegs jetzt sein könne. Bei der Holzerreide. Beim Brünndl am Alpsteig. Jetzt beim Höllkogel. Jetzt bei der Zettelbauernbrücke. Jetzt beim Müllner. Jetzt bei der Heidenbauernmühle. Diese Mühle war am Rand unserer Wiese, ich wendete meinen Blick unverwandt hin und siehe – der Weiddirn roter Kittel schimmerte durch die Erlenbüsche. Ich lief ihr entgegen: »Hast den Schlüssel?«

»Na freilich hab' ich ihn.«

Umständlich setzte sie sich auf den Steinhaufen, aber so, daß der rote Kittel hübsch ins Breite gelegt ward, und nestelte aus dem Knopfe ihres Handtüchels den Schlüssel hervor. Er war zierlich und glänzte wie Silber. Mit beiden fiebernden Händen habe ich danach gegriffen – nach dem schönen, kalten, kleinen Schlüsselein.[282]

»Und das Schloß?« fragte ich.

»Jeß Manand Josef!« kreischte die Weidmagd auf, »jetzt hab' ich's Schloß vergessen, daß ich's hätt' eine g'steckt. Das liegt beim Schlosser auf dem Fensterbankel!«

Ich wage es heute noch nicht, die Höllenpein zu berühren. Am liebsten, wenn der Abend nicht schon gedämmert, wäre ich stehenden oder besser laufenden Fußes selber nach Krieglach geeilt, um endlich dieses boshafte Glück persönlich zu zwingen. Aber noch eine Woche lang mußte das Türlein ungeschlüsselt auf und zu gehen, bis am nächsten Sonntag ich selbst zum Schlosser kam. In der Phantasie meiner Erregung erwartete ich beinahe, daß mittlerweile das Schloß in Verlust geraten sein konnte – so weit war ich in der Einsicht auf die tückischen Menschengeschicke bereits geschult. Aber das Schloß hat sich vorgefunden. Ich habe es heimgebracht und noch an demselben Tage angeschlagen.

»Jetzt sollt' just einmal der Schlüssel nit passen!« sagte mein Vater, der mir zusah. Als ich den Schlüssel anstecken wollte, fiel er mir zweimal zu Boden; das letztemal schnellte er so weit unter die Bank hinein, daß wir ihn mit dem Spanlicht suchen mußten. Aber endlich steckte ich ihn an und er – paßte. Wie geschmiert ließ er sich umdrehen, abziehen – und jetzt saß das Türl im Falz und rührte sich nicht. Das Kastel war zugesperrt.

Das war einmal ein Gefühl!

Vor den Augen meiner staunenden Geschwister sperrte ich das Kastel auf und sperrte es zu und eine Luft zu hören, wie allemal der Riegel klapp einschnalzte. Dann[283] hub ich an, auch meine anderen Sachen, die zufällig noch zerstreut gewesen, ins Kastel zusammenzutun; so das neue Paar Socken, das die Mutter erst fertiggestrickt; so das grüne Wollentäschchen mit dem Kresen-(Taufpaten-)geld, das mir bislang der Vater aufbewahrt; so die Kaiserbirne, die mir an jenem Tage eine uns besuchende Muhme geschenkt hatte. Und als das alles im Kastel war und nach einigem Nachdenken auch noch anderes zusammengetragen wurde, damit jegliches Kleinod, so ich auf Erden besaß, in sicherem Horte sei, sperrte ich das Kastel mit einem flotten Schnalzer zu und steckte den Schlüssel in den Hosensack.

Wie das bequem war, überall – auf Wiese und Feld, in Wald und auf der Alm seine Sach' geschlossen bei sich zu haben! Ich ging den Schafen nach, die sich auf den Kogel verlaufen hatten. Eine Weile mußte ich mich mit dem Widder herumhetzen, der über den Zaun auf das Riegelberger Gebiet gesprungen war. Endlich hatte ich die wollige Bande glücklich im Stall und nachher, wie ich wieder zu meinem Winkelkastel gehe, um es aufzusperren und die Kaiserbirne zu verzehren – ist der Schlüssel nicht im Sack...

Tagelang habe ich gesucht in Moos und Heidekraut des Kogels und ringsum, wo das Schafgjaid war – der Schlüssel hat sich nicht gefunden. Mich verlangte, mein Leid in Verse zu bringen, ich konnte nicht zum Papier; mich fror in die Zehen, ich konnte nicht zu den Socken. Alles, was ich Tag für Tag bedurfte, war im Kastel.

Endlich, da nach abgelaubtem Heidekraut die Spätherbstsonne auf den Boden schien und der Schlüssel trotzdem[284] nicht zu finden war, habe ich alle Hoffnung fahren lassen. Mein Vater bog einen Nagel krumm und öffnete das Schloß. Mit Ausnahme der verfaulten Kaiserbirne alles in guter Ordnung. Das Türl ging wieder ungesperrt auf und zu wie früher – und so ist es verblieben.

Jetzt steht auf dem Kogel die Warte. Sollte von einem Besucher derselben der Schlüssel gefunden werden, so möge ihn der redliche Finder behalten. Ich brauch' ihn nicht mehr, mir fehlt jetzt das Kastel dazu.

Quelle:
Peter Rosegger: Waldheimat. Band 1: Das Waldbauernbübel, Gesammelte Werke von Peter Rosegger, Band 11, Leipzig 1914, S. 277-285.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Waldheimat. Erzählungen aus der Jugendzeit
Waldheimat: Erzählungen aus der Jugendzeit - Zweiter Band [Reprint der Originalausgabe von 1914]
Waldheimat: Erzählungen aus der Jugendzeit

Buchempfehlung

Neukirch, Benjamin

Gedichte und Satiren

Gedichte und Satiren

»Es giebet viel Leute/ welche die deutsche poesie so hoch erheben/ als ob sie nach allen stücken vollkommen wäre; Hingegen hat es auch andere/ welche sie gantz erniedrigen/ und nichts geschmacktes daran finden/ als die reimen. Beyde sind von ihren vorurtheilen sehr eingenommen. Denn wie sich die ersten um nichts bekümmern/ als was auff ihrem eignen miste gewachsen: Also verachten die andern alles/ was nicht seinen ursprung aus Franckreich hat. Summa: es gehet ihnen/ wie den kleidernarren/ deren etliche alles alte/die andern alles neue für zierlich halten; ungeachtet sie selbst nicht wissen/ was in einem oder dem andern gutes stecket.« B.N.

162 Seiten, 8.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Sturm und Drang II. Sechs weitere Erzählungen

Geschichten aus dem Sturm und Drang II. Sechs weitere Erzählungen

Zwischen 1765 und 1785 geht ein Ruck durch die deutsche Literatur. Sehr junge Autoren lehnen sich auf gegen den belehrenden Charakter der - die damalige Geisteskultur beherrschenden - Aufklärung. Mit Fantasie und Gemütskraft stürmen und drängen sie gegen die Moralvorstellungen des Feudalsystems, setzen Gefühl vor Verstand und fordern die Selbstständigkeit des Originalgenies. Für den zweiten Band hat Michael Holzinger sechs weitere bewegende Erzählungen des Sturm und Drang ausgewählt.

424 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon