Die ersten Ferien.

[5] Im Schatten der grünenden Bäume.

Da sitz' ich so gerne allein.

Da fallen mir goldene Träume

Der fernen Vergangenheit ein.

(Volkslied.)


Die ersten Vakanzen waren kaum zu erwarten.

Man sollte meinen, ein lernbegieriger Mensch, der sich so spät und so schwer in die Lehrsäle fand, wäre aus denselben kaum mehr herauszubringen gewesen. Und rieten mir ja meine Freunde, ich sollte über die zwei Ferienmonate hübsch in der Stadt bleiben und den erst vor wenigen Monaten begonnenen Unterricht durch Privatlehrer an mir fortsetzen lassen. Der Rat war gut, aber er machte mir übel bis in den Magen hinab, denn das Heimweh war in dem zweiundzwanzigjährigen Waldbauernbuben größer, als die Lernlust. Wenn meine Freunde und Lehrer nicht Seelenkenner gewesen wären und es nicht so eingeteilt hätten, daß ich mitten in meinem grünen Heimatlande und selbst in den Waldbergen lernen konnte, ich wäre ihnen entlaufen, ich wäre daheim ein verkommener Mensch geworden und es wäre ein Elend gewesen.

Nun, die ersten Vakanzen waren endlich da, ich nahm meine Bücher in eine große Seitentasche und eilte aus der heißen, blendenden Stadt in die kühlen Berge, in deren[5] Tälern der Duft der jungen Heumahd war und über deren Höhen der hochsommerliche Julihimmel lag.

Das Haus stand noch auf den Matten zwischen den Wäldern und es hatte sich in demselben gar nichts verändert, als daß die Schwalben wieder um die grauen Bretterdächer schwirrten, auf welchen bei meinem Fortgehen der Schnee gelegen war. Selbstverständlich, es war eine große Freudigkeit, als der Student einkehrte, und meinem Vater kam ich ganz besonders recht. Es war die genötige Zeit, ich sollte zu den Heuschöbern oder zum Vieh, was ich am liebsten wollte – so einem angehenden »Herrn« da muß man schon die Wahl lassen.

Es war ein böses Ding. Denn ich wußte, meine Lehrer würden mich zum Beginne des neuen Schuljahres nicht nach Heu und Vieh fragen, sondern nach den Grundsätzen der deutschen Sprachlehre, der Rechenkunst usw. Und wie auch sollte ich es von meinem Vater verlangen können, daß er mir Dach und Tisch gebe, und ich leistete nichts dafür! Dann die Nachbarn: Jetzt ist er schon wieder daheim und arbeitet nicht; der bringt seine Eltern an den Bettelstab!

Verstimmt ging ich über den Bergrücken nach Haustein oder Hauenstein hin. Der dicke Hausteiner Wirt, Lorenz Haas hieß er; ein Mann, weit und breit bekannt wegen seiner Herlebigkeit, denn er warf jeden Gast, der ihm nicht zu Gesichte stand, zur Tür hinaus; wegen seiner Gutmütigkeit, denn er verlieh und verschenkte allmählich den größten Teil seines Vermögens an die Leute; wegen seiner Wohlbeleibtheit endlich, denn in seinen besten Jahren mußten wir Schneider um ihn herumlaufen, wie um die alte Dorflinde, wollten wir ihm einen Rock anmessen.[6] – Herr Lorenz Haas ließ mir jetzt zum ersten Male das Glas Bier auf einer blechernen Ehrentasse vorstellen und tat die Bemerkung, ich hätte als Schneidergeselle ein lustigeres Gesicht gemacht, denn jetzo als Studiosus.

Da vertraute ich ihm denn, daß der Studiosus auf seinen Vakanzen keinen rechten Platz zum lernen habe und sich werde bequemen müssen, seine Studien auf der Hutweide fortzusetzen.

Sagte Herr Lorenz: »Das wäre nicht übel!«

Sagte ich: »Es ist aber sehr übel.«

Hierauf ließ er sich seinen feingeschliffenen Weinstutzen zur Hälfte mit Wein, zur andern Hälfte mit Wasser füllen; dann sagte er rasch und schnarrend: »Ich weiß dir was!«

»Gut wäre es gewesen, wenn ich in meiner Kammer zu Graz verblieben wäre,« meinte ich.

»Das wäre gut gewesen,« sagte Herr Lorenz Haas, »aber noch besser ist, daß du über die acht Wochen zu uns herausgekommen bist. Eine Wohnung weiß ich dir. Da steht ein Bett und ein Tisch und ein Schrank drinnen, und zu den zwei Fenstern winken die Birken herein! Wenn dich nur die Nachbarschaft nicht geniert.«

Des wäre ich nicht heikel, meinte ich, Lärm mache mir nichts.

»Sie macht auch keinen. Meine Taverne oben auf dem Föhrenriegel, die kennst?«

»Ja, recht gut,« sagte ich, »bin in ihr ja einmal vier Wochen in die Schule gegangen, zum Firmunterricht.«

»Jetzt ist schon lang keine Schule mehr in meiner Tavern, wie du weißt, jetzt steht sie leer. In der früheren[7] Schulstube hat der Küster das heilige Grab stehen, welches am Karfreitag in der Kirche ausgerichtet wird, und die Bahrstangen, glaube ich; und anderes Kirchengeräte. Und im Stübl; wo der Schulmeister gewohnt hat, hätte jetzt prächtig so ein fleißiger Studiosus Platz. Die Aussicht ist auch nicht übel.«

»Ja, über den Kirchhof hin,« sagte ich.

»Macht dir das was?« fragte Herr Lorenz.

»Das macht mir nichts,« antwortete ich, »aber der Mietzins?«

»Der wird dir auch nichts machen. Mich soll es freuen; wenn du dich in meiner Taverne einwohnst, und zum Essen hast nur einen kleinen Weg herab in mein Haus. An einem Tisch, wo für Zehn gekocht ist, wird für den Elsten auch noch ein Teller sein. Mach' dir nichts draus, Waldbauernbub, ich hab' dich allfort gern gehabt, und jetzt sei bei mir daheim.«

's war doch ein guter Mann. Und jetzt hatte ich eine Stunde von meinem Vaterhause eine ruhige Wohnung, wo ich unbeirrt von Heu und Vieh lernen konnte.

Ich vergesse es auch nicht mehr, das Stübchen in der Taverne zu Haustein. Wenn ich des Morgens in meinen weißen Linnen erwachte, war das eine Fenster voll von Wald, wie er jenseits des engen Tales am Berge stand. Das Dörflein tief im Tale, das sah ich nicht, es war versteckt unter den hellen, quellenden Büschen und unter den alten Ahornen und Linden. Und am andern Fenster zitterten die Schatten der Birkenzweige und zwischen den Birkenzweigen schimmerten die bemoosten Steine des nahen Föhrenriegels und die wettergraue Wand des Kirchturmes, hinter dem die Sonne aufstieg, die rein,[8] wie ich sie seither nirgends mehr gesehen, durch die großen Glasscheiben auf die blankgescheuerten Dielen meiner Stube fiel.

Und um die Kirche liegt der Kirchhof, ein wenig uneben, hie und da ein wenig ausgetreten. Alles miteinander steht auf einem Hügel und ist mit einer niedrigen Mauer umgeben, über die vom Hange herauf die Baumwipfel ragen. Und alles frisch duftig und sonnig, und wenn ich das Fenster öffnete, strömte eine kühle, von Vogelsang durchklungene Waldjugend herein. –

In der Pfarre Haustein sterben jährlich bloß vier oder fünf Menschen – und diese nicht einmal gern. Und der Boden des dortigen Kirchhofs ist so festgetreten und hat einen so dichten Rasen, daß man darauf wandelnd nicht jenes Gefühl hat, wie auf andern Friedhöfen, wo mit jedem Schritte der Boden zu wanken und zu sinken scheint.

Meine Stube war in Ordnung. Die Bücher hatte ich schön hingestellt in den Schrank und das weiße Papier hingelegt auf den Tisch. Als ich jedoch das erstemal zum Frühstück hinabgestiegen war ins Haus des Herrn Lorenz Haas, da sagte ich: »Zum Studieren will sie mir nicht passen.«

»Wer,« fragte Herr Lorenz.

»Die Taverne. Das ist ein so liebes, stilles, einsames Haus, daß ich fast glaube, in ihm werde ich dichten.«

»So dichte.«

Als ich wieder zurückkam in meine Stube, war das Bett und alles hübsch in Ordnung gebracht; da setzte ich mich an den Tisch und schaute zu den Fenstern hinaus, einmal in den besonnten Wald, das anderemal auf den[9] betauten Kirchhof, und in mir war das Gefühl des heimatlichen Friedens, der mit gleicher Größe ist über der lebendigen Welt und über dem Rasen der Schläfer.

In der Morgenstunde stieg auch der Pfarrer zur Kirche herauf und las sein Amt. Die Orgel klang zart zu meinem Stüblein herüber. Dann schritten die wenigen Kirchengänger an meinem Fenster vorbei und guckten wundershalber auch ein bißchen herein auf diesen jungen Menschen, der auf der Welt so eigen herumregiert, jetzt als Waldbauernbub, jetzt als Schneidermensch, jetzt als Stadtstudent und jetzt wieder wie ein Einsiedler bei den Toten.

Dann ging vielleicht einmal ganz langsam und be) scheidentlich die Tür auf und meine Mutter kam herein und schaute, ob ich in meiner neuen Wohnung wohl alles habe, was ich brauche, machte sich etwas zu schaffen, daß es mir gut sei und sagte dann gegen das Kirchhoffenster deutend: »Das Fenster ist dir einmal gesund, kannst schön aufs Sterben denken.«

Ein anderes Mal kam mein Jugendfreund Eustach, der gab sich laut und lustig, und wenn ich ihm mit meiner Kirchhofspoesie anhub, lachte er mich aus und sagte, ich wäre ein Student, der auf die Totengräberei studiere. Der gute, lebenslustige Bursche! Heute ist er Moder, aber nicht auf dem friedensstillen Gottesacker zu Haustein, sondern im weiten, dürren, staub- und lärmumbrausten Leichenfeld einer großen Stadt.

Als er nämlich später gehört hatte, mir ginge es gut und ich gedächte sein, war er mir nachgekommen in die Stadt und hatte Arbeit genommen in einer Fabrik. Von Woche zu Woche wurde er blässer; wenn wir am[10] Sonntage miteinander gingen, riet ich ihm stets, er solle wieder heimkehren zur ländlichen Arbeit in der Waldluft. Er antwortete: nein. Und als ich ihn fragte, warum er nicht mehr heim wolle, antwortete er noch entschiedener: nein. Erst im Spital gestand er mir, er möchte wohl sein Heimatstal noch einmal sehen, aber er wolle der Leute Spott nicht hören. Er hätte bei seinem Fortgehen gesagt, er käme nur als »Herr« wieder zurück aus der Stadt; nun sei er aber noch ärmer geworden, als er gewesen, und die boshaften Leute, die seinen Fortgang verhöhnten, würden seine Rückkehr noch mehr verhöhnen. Da sterbe er lieber in der Fremde. Ich kam hierauf noch drei Tage nacheinander zu seinem Lager, wo er so emsig beschäftigt war, Atem zu holen. daß er dazwischen kaum noch einige Worte zu sprechen vermochte. Am vierten Tage war sein Bett leer und mit der Decke zugehüllt. Der Wärter bedeutete mir, er sei in der Nacht fertig geworden. Ich ging in die Leichenhalle, sah lauter fremde Gesichter, aber das seine nicht. Ich ging in den Seziersaal und hatte mit den Herren einen Streit. Der Leib meines Freundes wurde dann unverletzt aufgebahrt und in christlichen Ehren bestattet.

So ward es später mit Eustach, der jetzt meine stille Taverne am liebsten zu einem Tanzboden umgestaltet hätte. Er blieb selten lange bei mir und so war ich allein den langen Tag, nur daß draußen mitunter der alte Bettlerhiesel vorüberwankte, dem die Leute so viel Almosen gaben, weil sie ihn so sehr fürchteten. Der Bettlerhiesel tat nämlich solche Leute, die ihm zu wenig gaben, »in die Höll' hinabbeten«. Das heißt, er hub mit seiner eintönigen Stimme langsam an zu fluchen, und wankte[11] so, mit entblößtem weißen Haupt, tiefgebeugt am Stabe, leise und beharrlich fluchend um das Haus, bis alle Einwohner mit Haut und Haar in die unterste Hölle verwünscht waren. Er tat jeden einzeln ab und nahm stets auch dessen Vater und Mutter und ganze Verwandschaft mit, sie mochten noch leben, oder schon im Grabe ruhen. Gewöhnlich geschah es dann, daß ein Nachtragsalmosen aus dem Hause kam, was die Folge hatte, daß der Bettler anhub, die in die unterste Hölle Verwunschenen in die mittlere, von da in die obere Hölle heraufzubeten und von dieser sie endlich in den Himmel emporzusegnen. Beides, nach unten und nach oben hin, tat er ohne Haß und ohne Liebe, es war Geschäftssache. Er trieb auch sonst allerhand sonderbare Stücklein und die Leute nannten ihn einen Halbnarren, weil er ihnen für einen ganzen zu närrisch schien. Als er starb, hat man in seinem Strohsack Geld gefunden, was zum Teile die Bruderschaft eines Stiftes in Empfang nahm, um den Bettlerhiesel in den Himmel hinauf zu beten.

Wenn nun aber um meine Taverne stundenlang kein lebendiger Mensch war und nicht einmal ein alter Bettlerhiesel über den Kirchhof hinkte, erinnerte ich mich, daß der Herr Pfarrer zu Haustein gesagt hatte, ich solle mich doch bisweilen bei ihm anmelden. Es war damals die Zeit, wo jeder Simpel über religiöse Dinge rasch und wegwerfend aburteilen zu müssen glaubte; ich setzte des Pfarrers Wein zu und führte dabei als einer, der jetzt hoch im Studium sei, eine sehr naseweise Sprache. Der geistliche Herr war geduldig und sagte: »Gott beschütze dich noch manches Jahr, die Klärung wird sich dann schon vollziehen.«.[12]

Öfters ging ich in den kühlen Waldgräben hin und wählte mir am rauschenden Bach ein Sitzplätzchen zum Studieren; als ich aber drauf saß, schaute ich auf die grünbemoosten Steine, um die das Wasser gischtete, oder in die finsteren Schatten zwischen den Baumstämmen hinein und es vergingen die Stunden. Dann ging ich auf den weißen Sandwegen der Berghöhen und schaute über die Birken- und Kiefernwälder bis zu den fernen blauen Bergen, und über die ganze weite Gegend war der sonnige Sommernachmittag hingehaucht. Wenn ich endlich des Abends zurückgekehrt war in meine dunkle Taverne, da dämmerten die hellen Bilder noch lange in meiner Seele, ich setzte mich an das Fenster und schaute auf den Kirchturm oder auf das Berggrat, wo man das Farbenspiel der untergehenden Sonne sah, und tat, was ich den ganzen Tag getan hatte, ich träumte.

An einem solchen Abende war die Stunde, mit der meine zweiundzwanzig Lebensjahre voll wurden. Da sagte ich zu mir: Jüngling! Blut Gottes! ist es nicht schade um die kostbare Zeit, daß du sie verträumst?! Siehe da hinab in die Häuser und Hütten, die Menschen denken nicht an die Schönheit dieser Welt, aber sie lieben sie. Sie fügen sich zusammen in warmen Freuden und begehen süße Stunden. Dem Schneiderjungen schon waren Herzen offen gewesen, dem Studenten mit den langen Locken werden deren noch mehr offen sein. Nur dreihundert Schritte brauchst du zu gehen – und selbst wenn es vierhundert wären – und du stehst vor jemandem, der lange heimlich nach dir auslugt, der sich vor einem Kusse nicht länger sträuben wird, als es fürs erstemal Sitte ist.[13]

Die Kirchturmspitze funkelte noch ein letztesmal in der Sonne und der Junge blieb sitzen am offenen Fenster, und sah den Abend dämmern und sah die Nacht werden.

Und in der Nacht; da spielte der sinkende Halbmond draußen auf der Kirchhofsmauer und in den stillen Büschen. Da waren blasse Streifen und Tücher gezogen über den Rasenplatz hin und es rührte sich einmal ein Zweig und es zitterte einmal ein Laub, und doch war es stiller als still – die Kirchturmuhr aber schmiedete in ihrem langsamen Tiktak an dem Ring der Ewigkeit.

Endlich, da der Mond vergangen war und die schwere Nacht lag, in welche ich auch noch eine Weile hinausstarrte, weil man in solcher Nacht fiebernde Gedankenungeheuer tief versenken und verhüllen kann – zündete ich endlich das Licht an und deckte mir mein Bett auf. Und als ich auf dem Bette saß und noch immer wachend träumte und mir leid war um den Tag, der verträumt worden, und mir leid war um die Nacht, die verschlafen werden sollte, flog plötzlich etwas zum offenen Fenster herein, kollerte klappernd auf den Boden und lag dann mitten auf demselben still. Ich schaute hin, es war ein rundes, löcheriges Ding. Der Atem blieb mir stehen, wie ich so darauf hinstarrte und wie es so auf mich hergrinste. Es war ein Totenschädel.

Vor Entsetzen waren meine Glieder lahm und meine Gedanken. Als ich zu mir kam, schloß ich das Fenster und schloß die Läden, daß nicht etwa noch das ganze Zugehör zu mir hereinspringen konnte. Endlich kam ich mit mir dahin überein: Von selber kommt so ein Ding nicht geflogen. Wenn es auch einmal ein Menschenhaupt gewesen war, das Unsinn trieb, so verläßt es jetzt doch[14] nicht sein kühles Kissen, um mitternächtig eine Geburtstagsvisite zu ma chen. Mein wunderlicher Gast – er blieb liegen, wo er lag und grinste mich an – war eigentlich ganz jugendlich, er hatte noch alle Zähne – vielleicht waren wir zusammen in die Schule gegangen. Fürs erste verrammelte ich nun die Tür und setzte mich in Wehrstand – nicht gegen den Knochen, sondern gegen den, der ihn wohl aus dem Beinhause in die Stube geschleudert haben mochte. Aber draußen regte sich nichts. So wurde ich allmählich dreister, hob den Totenschädel auf und stellte ihn auf den Tisch.

Doch mit einem solchen Gesellen ist es schwer, eine Unterhaltung anzuknüpfen. Wie wir uns eine Weile so still gegenübersaßen, war es sehr langweilig. über Sein und Nichtsein wäre ein nicht unpassendes Gesprächsthema gewesen. Aber keiner sing an.

Nachdem das Grauen sich verzogen hatte, wurde unsere Bekanntschaft insofern traulicher, als ich den Schädel in die Hände nahm – so ein Ding wiegt viel leichter als man glaubt – und ihn einmal über und über betrachtete. Und jetzt war auf einmal alle Beklemmung weg, mit der Berührung der Masse war das gespenstische Wesen zerstoben. Wie der Tod im Grunde doch harmlos ist! Nur das Leben bäumt sich so närrisch dagegen auf und stößt jenen Angstruf aus, vor dem es dann selbst bis ins Mark erschrickt.

Und dann ertappte ich das Ding bei einer menschlichen Schwäche. Ich nahm wahr, daß ein Vorderzahn des Oberkiefers mit einem lockeren Metallstift am Kiefer befestigt war. Also falsche Zähne! Sollte in diesen Höhlen das Gehirn einer Frau geherrscht haben? Kannte[15] ich nicht auch einen Mann, der sich einen vorderen Oberzahn; den er sich beim Klarinettblasen ausgebissen, zum Behufe des Klarinettblasens wieder ersetzen ließ? Der lustige Musikantenjackel; Gott habe ihn selig, er starb in jungen Jahren, nachdem er ausgespielt hatte, was das Zeug hielt. Bei meines Vaters Hochzeit soll er der Lustigmacher gewesen sein; der Mann hatte Grütze gehabt da drinnen in dieser Beinbüchse. Ja, wahrlich, das war niemand anderer, als der Schädel des Musikantenlackel – erschienen, um mir das Geburtstagsständchen zu bringen.

Die Nacht war übrigens geruhsam. Am frühen Morgen stieg ich hinab zu meinem Frühstück. Herr Lorenz hatte mir heute das Tischchen mit einem rotblumigen Tuch bedecken und darauf einen Rosenstrauß und einen Gugelhupf hinstellen lassen.

Ich fragte, seit wann in Haustein die Glückwünscher nächtlicher Weile zu den Fenstern hereinflögen?

»Wieso?« sagte Herr Lorenz.

»Ser Musikantenjackel hat mich aufgesucht.«

»Der ist ja schon seit wenigstens fünfzehn Jahren tot!« rief mein Gastherr.

»Freilich ist er tot,« sagte ich, »und das ist eben das Verdächtige. Da seht ihn!« – Und hielt den Schädel hin.

Herr Lorenz trat einen Schritt zurück.

»Junge,« sagte er dann, »mit solchen Sachen treibt man keine Späße.«

»Aber solche Sachen treiben sie mit uns. Um Mitternacht ist er mir zum Fenster hineingeflogen.«

Jetzt hörte ich hinter dem großen Backofen, in welchemd[16] die berühmten Hausteiner Semmeln gebacken wurden, ein gurgelndes Lachen. Saß der alte Bettlerhiesel dort und lachte mich aus. Jetzt stand's nicht lange an, so glaubten wir zu wissen, wer den Knochen in meine Stube geschleudert hatte. Herr Lorenz schritt sehr rasch auf den Alten zu und hob sein fünffingeriges Hausgericht drohend über das graue Haupt.

Mir gelang es noch rechtzeitig, die Gefahr abzuwenden, worauf der Bettlerhiesel sich erhob, feierlich vor mich hinstellte und anfing in langsamer, eintöniger Art etwa so zu reden: »Vergelt's Gott, Herr. Hundertmal vergelt's Gott, Herr. Glück in dein Haus und Dach und Fach. Dein Rat und Tat soll gesegnet sein. Vergelt's Gott, Herr. Deine arme Seel' soll in den Himmel fahren. Deine Freunde in den Himmel fahren. Deine Feinde in die Höll' fahren. Vergelt's Gott, Herr. Der heilige Erzengel Gabriel soll dein Diener sein. Im ersten Himmel ist dein Vorhof. Im zweiten Himmel ist dein Hochzeitsmahl. Im dritten Himmel soll dein Ehebett sein. Gott der Vater wird dich krönen. Gott der Sohn wird dich umarmen. Gott der heilige Geist wird deine Freud' und Seligkeit sein in alle Ewigkeit, Amen. Vergelt's Gott, Herr. Vergelt's Gott, Herr.« –

Ter Schädelschleuderer war er also wohl doch nicht gewesen. Ich habe auch nicht wieder nachgeforscht. Möglich, daß der Eustach etwas gewußt hätte. – –

Es mutet mich seltsam an, heute, da diese Dinge in meinem Gedächtnisse wieder aufstehen. Es ist die Flut einer fremden Welt darüber hingefahren, aber sie verlief und aus dem Schlamme steigen die alten Gewächse, die mich wie Schlingpflanzen stets von neuem[17] umweben. Andere sehen die Zukunft in leuchtenden Farben, die Vergangenheit ist ihnen dunkel geworden, sie wenden sich von ihr ab, als von einem unwiederbringlich Verlornen. Mich deucht, nichts ist so sehr unser Eigentum, als unsere Vergangenheit, die uns aufgebaut hat, die wir sind. Es sind unbedeutende Dinge; mag wohl nicht immer gerechtfertigt sein, daß ich sie erzähle, denn so kann ich sie nimmer vor die Seele der Leser stellen, als sie vor meiner eigenen stehen – so traumhaft bunt und magisch, so wehmutsreich und mild, daß ich mir nach meinem Tode gar keinen andern Himmel wünsche, als den, meine Vergangenheit noch einmal durchleben zu dürfen. Wenn der Bettlerhiesel die Macht gehabt hätte, den Menschen ihr vergangenes Leben zurückzubeten, so hätten ihn wohl viele vielleicht zur Tür hinausgewiesen, ich aber hätte ihm alles, alles dafür gegeben, was mein war.

Ich wäre ja doch wieder dazukommen.

Quelle:
Peter Rosegger: Waldheimat. Band 4: Der Student auf Ferien, Gesammelte Werke von Peter Rosegger, Band 20, Leipzig 1914, S. 5-18.
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