Die Wacht am Rain.

[284] Das kleine Königreich meines Vaters hatte auch eine Armee, um seine Grenzen zu beschützen. Und diese Armee war ich, etwa von meinem achten bis fünfzehnten Lebensjahre. Siebenjährige Dienstzeit.

Die Grenzraine des an siebzig Joch weiten Besitzes waren teils mit Holzstangenzäunen, teils mit Hecken bestanden, teils mit Steinhaufen gemärkt, teils durch einen Bach gezogen. Großenteils aber lag die Grenze zwischen uns und dem Nachbar fast ohne sichtbare Linie da, nur daß von Strecke zu Strecke ein aus der Erde ragender Stein oder ein Baumstock die Berainung anzeigte, die seit Urgroßvaters Zeiten haarscharf genau an der gleichen Stelle sich hinzog. Zu Urgroßvaters Zeiten soll es wohl einmal ein Nachbar versucht haben, etliche Grenzsteine auf unsere Wiese hereinzusetzen; der mußte diese seine Grenzerweiterung ganz kurios wieder richtigstellen – nachher als Geist. Und wie schwer sich ein Geist tut, der ohne Knochen und Muskeln Steine ausgraben, weitertragen und wieder einsetzen soll, das kann man sich denken. Andere Grenzüberschreitungen kamen wohl auch zu meiner Zeit vor. Es ging des Nachbars alte Magd im Frühherbst mit dem Handkorb und sammelte auf unserem Gebiete Pilze und Beeren. Kein Mensch wies sie zu rück, ja, wir wußten nicht einmal, daß die Waldfrüchte, die auf unserem Boden von selbst wuchsen, unser Eigentum[285] seien, dachten auch nie darüber nach. In der Waldheimat hat derlei wohl seit jeher als gemeinsamer Besitz gegolten, so wie ja der Durstige von der Quelle trinkt, ohne zu fragen, wem sie gehört. Auch wenn des Nachbars Knecht mit der Axt über den Rain herkam, um in unseren Stauden Gerten zu schneiden oder von einer Fichte einige Äste für Hausbesen herabzuhacken, weil ihm unsere Hecken und Bäume etwa gelegener und brauchbarer waren, als die auf seinem Grunde: so empfanden wir das nie als einen unberechtigten Eingriff in unser Eigentum. Wir machten es ja umgekehrt auch so.

Deshalb also war kein Grenzschutz vonnöten, nicht einmal ein, wie der zugewanderte Schweizer sagte, drei Käse hohes Bübel, das gleichzeitig Feldmarschall und Regiment sein mußte. Aus einem anderen Grunde bedurfte meines Vaters Königreich der Wacht am Rain.

Im Herbste, wenn das Heu im Stadt, das Getreide in den Scheunen war, ließen wir das Vieh auf Wiese und Feld, damit es die Futterreste grase, ehe der Schnee kam. Und dieses Vieh übertrieb die Genußsucht, den Ehrgeiz und respektierte keine Grenzen. Nicht das Futter lockte es so sehr auf fremde Gebiete, als vielmehr der Haß und die Liebe. Hier stieg ein Ochse über die Grenze, brach, wenn's sein mußte, den Zaun, um in der Nachbarsherde Händel zu suchen. Da fuhren sie mit hochgereiften Schweifen brüllend gegeneinander, stießen mit den Schädeln zusammen; jedes der ringenden Tiere ist drauf aus, dem andern ein Horn ins Auge oder in den Hals zu rennen und gleichzeitig pariert jedes mit kluger Kopfwendung den Stoß. Trotzdem geschieht bisweilen Unheil, ein Hornbruch, ein Beinbruch, wenn sich die Kämpfer nicht gar abstechen. So ein Ochse hält auf Ehre und will der Stärkere sein. So verachtend jedes einzelne[286] Vieh der Herde auf den Händelstifter blickt, der rauflustig über den Rain herkommt, so wohlgefällig und ehrerbietig schaut es auf ihn, wenn er als Sieger dasteht. Und der zuschanden gerannte Gegner bleibt liegen, wo er liegt. Kurz, die Tiere sind oft gerade so niederträchtig wie die Leute.

Deshalb die Wacht am Rain. Der drei Käse Hohe mit dem Birkengertel genügt, um die stärksten, wütigsten Rinder in ihr Bereich zu bannen. Ein wutschnaubender, drei Zentner schwerer Ochse, der es mit der ganzen Nachbarsherde aufnimmt, läßt Kopf und Schweif hängen, wenn das achtjährige Knäblein mit der Gerte droht. Ist das Dummheit oder Klugheit? Es mag letzteres sein. Des Ochsen von Menschen stets beherrschte Vorfahren haben ihm einen Instinkt vererbt, der ihm sagt: Du! Mit diesen winzigen Zweifüßlern fange nichts an. Da zögest du den kürzern, wenn nicht heute, so morgen!

Aber auch die Liebe lockt das Vieh zum Überschreiten der Grenze. Die Herde hat ihre Jungmännerwelt, die über die Grenze liebäugelt, wenn auf der Nachbarswiese ahnende Kalben und lebenslustige Kühe weiden. Und sie wollen herüber, diese vierfüßigen Herren mit den schwerschlotternden Halsfahnen. Das ist nicht immer im wirtschaftlichen Sinne der Herdenbesitzer, die nur zu gewissen Zeiten eine Zusammenkunft der verschiedenen Geschlechter begünstigen können, im übrigen aber strenge auf Zucht und Ordnung halten. Deshalb stellen sie am Rain eine Wacht auf.

Diese Wacht also war meine Sache, viele Jahre lang.

Meine Heldenhaftigkeit mit der Gerte ist schon angedeutet worden, so muß leider auch von meiner Unverläßlichkeit berichtet werden. Parteihistorie würde statt Unverläßlichkeit ein viel strengeres Wort gebrauchen, wenn nicht gar von – Hochverrat sprechen. Eines Tages, während[287] auf unserer Wiese unsere Kuhherde weidete und auf des Nachbars Weide das junge Stiervolk, verließ ich meinen Posten am Rain. Es schien die Sonne so scharf und der nahe Wald hatte so weiche, laue Schatten, und die Tiere graseten so unbefangen vor sich hin, graseten an jeder Seite sachte von der Grenzhecke weg, um sich immer mehr voneinander zu entfernen. Diese Kriegslist durchschaute ich nicht, ging in den Wald hinein, um unter dem wohligen Tannenschirm in dem schönen Erbauungsbuche von den sieben Schwaben zu lesen. Es ging zwar etwas langsam mit dem Lesen, aber nach einer Weile war ich doch aus der Geschichte beinahe klug geworden: Ein Rathaus hatten sie sich gebaut, die sieben Schwaben, und als sie hineingingen, war es ganz finster drinnen. Dem, meinten sie, sei leicht abzuhelfen, man müßte eben das Tageslicht in Säcken hereintragen. Das taten sie, doch als sie drinnen die Säcke ausleerten, kam wieder nichts heraus, als eitel Finsternis. Nun hielten sie eine Ratssitzung und erörterten die seltsame Erscheinung, wieso denn das komme, daß gerade in diesem neuen Hause alles finster sei, mitten im Tage? Bis es einem der Herren, es war ein Gelehrter, nach tiefgründigem Forschen einfiel, ob die auffallende Dunkelheit nicht etwa davon komme, weil das Haus keine Fenster habe? Sie hatten beim Baue der Fenster vergessen. Dann ist der Antrag gestellt worden, an den Wänden probeweise Fenster auszubrechen, der mit Stimmenmehrheit auch zur Annahme kam. – So ungefähr stand's im Buche. Ganz klar war die Sache nicht, kümmerte mich aber einstweilen nicht weiter drum, sondern sah nach meinem Berufe am Rain. – O schreckbares Ereignis! Auf unserer Wiese gab es einen grausigen Tanz. Sie war voller Kühe, Kalben, Ochsen und Stiere; die Nachbarlichen waren alle herüber und wirbelten mit den Unseren[288] schaudervoll durcheinander. Die einen bekämpften sich mit Köpfen und Hörnern auf Leben und Tod, die übrigen besprangen sich und ritten eines auf dem andern herum, ganz sinnlos, ganz dumm. Ich habe mich ihrerstatt geschämt.

Das erste war, daß ich in den kreisenden Knäuel mein Buch schleuderte. Aber aus den sieben Schwaben machten sie sich gar nichts. Meine Gerte brach bei dem ersten Hieb auf den wahnsinnigen Stier entzwei. Vom verdorrten Ahornbaum riß ich einen erklecklichen Ast ab, mit demselben drang ich aufs Schlachtfeld ein – und die Herden stoben auseinander. Die Heldentat war groß. Doch mein Vater, als er draufkam – vom Hausberge aus hatte er's gesehen – sprach nichts von einer Heldentat, sondern von einer sträflichen Unverläßlichkeit. Das Zuschlagen, meinte er, der auf kein Tier schlagen sehen konnte, wäre nie notwendig geworden, wenn ich stets am Rain gewacht hätte.

Derselbe Grenzrain, der über die Wiese ging, zog sich durch den Wald hinauf bis zu jenem Brunnen, wo aus der sandigen Erde Wasser quoll und über eine morsche Holzrinne in den Trog floß. Da geschah es unterweilen, daß an diesem Troge unsere Hausdirne Wäsche ausschwemmte, während jenseits des Raines des Nachbars Knecht Brennholz klob. In solchen Stunden schickte auch mich mein Vater gerne zum Brunnen, um dort Kresse zu sammeln, den die Mutter zu einem köstlichen Salat bereiten konnte; oder ich sollte mit einer Haue das Wassergräblein tiefer furchen, das unterhalb des Brunnentroges heraus und am Rain dahinlief. Manchmal wollte die Dirn mich fortschicken durch das junge Waldbestände hin, um auszuspähen, ob nicht irgendwo eine Wildtaube niste oder ein Has im Pfeffer sitze. Ich folgte ihr nicht, denn der Vater hatte mir aufgetragen, am Brunnen zu arbeiten, wo auch die[289] Dirn Wäsche schwemmte. Einmal jedoch, als von jenseits herüber hell die Holzaxt klang, vertraute mir die Dirn an, daß weiter unten im Dickicht ein großes Kuckucksnest sei – fünf Junge wären darin, kohlschwarzgefleckte Kerle, ganz kleine. Doch jammerschade, wenn ein's keinen davon erwischen könnte! Da lief ich durch das Dickicht hinab, fand ein leeres Rehnest, fand einen hohlen Baumstock mit Käfern, fand eine Gruppe gelber, halbverfaulter Pilze – aber das Kuckucksnest fand ich nicht. Ärgerlich ging ich zum Brunnen zurück, und dort fand ich auch die Magd nicht. Die Wäscheranzen lagen noch auf dem Trogkopf und tröpfelten ihr letztes Wasser aus. Ob die Dirn nicht etwa zum Holzklieber hinübergegangen sei, um ein bißl zu plaudern? dachte ich und ging hinüber. Drüben sah ich den Scheiterhaufen und die Axt und eine blaue Barchentjacke, die am Baume hing; aber es waren weder der Nachbarsknecht noch die Hausdirn da. – Sie werden heimgegangen sein, dachte ich und ging ebenfalls heim. Und die Hausdirn war auch zu Hause nicht.

Darüber wurde der Vater aufgebracht, viel zorniger, als es sich um ein Körblein Waldkresse auszahlt, und er sagte mir's hart ins erschreckte Gesicht hinein, ich sei zu nichts zu brauchen. Ich hätte das Vieh auf Schaden gehalten und ich hätte die Dirn auf Schaden gehalten. – So ungefähr weiß ich die Worte noch und habe sie doch damals nicht verstanden. Man muß zum mindesten sechzehn Jahre alt werden, bis man so was versteht. Man hört's auf der Bauernschaft und sieht's und versteht es doch nicht. Man ist gleichgültig dafür. Erst als im großen Siebzigerjahr im ganzen Lande die »Wacht am Rhein« gesungen wurde, ist auch mir jene Wacht am Rain wieder eingefallen, die ich einst so »tapfer« gestanden bin und von der ich gerne[290] erzähle, um zu erinnern, daß die Einfalt kein guter Wächter ist.

Freilich bin ich auch nicht dafür, daß man, wie die sieben Schwaben, das Licht sackvollweise in die Kindsköpfe trage, um sie frühzeitig aufzuklären über die Geheimnisse des Raines. Ich war an die zehn Jahre, als ein übermütiger Holzknechtbub mir den er sten Sack voll Licht ins Gehirnkastel schüttete. Darauf dämmerte es bloß. Richtig eingeheizt hat mir erst viele Jahre später ein Nachbarsmadel. Da wäre ich gerne wieder Wacht am Rain gestanden, aber nun stand der Vater selber dort. –

Quelle:
Peter Rosegger: Waldheimat. Band 2: Der Guckinsleben, Gesammelte Werke von Peter Rosegger, Band 13, Leipzig 1914, S. 284-291.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Waldheimat. Erzählungen aus der Jugendzeit
Waldheimat: Erzählungen aus der Jugendzeit - Zweiter Band [Reprint der Originalausgabe von 1914]
Waldheimat: Erzählungen aus der Jugendzeit

Buchempfehlung

Meyer, Conrad Ferdinand

Gedichte. Ausgabe 1892

Gedichte. Ausgabe 1892

Während seine Prosa längst eigenständig ist, findet C.F. Meyers lyrisches Werk erst mit dieser späten Ausgabe zu seinem eigentümlichen Stil, der den deutschen Symbolismus einleitet.

200 Seiten, 9.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Geschichten aus dem Biedermeier II. Sieben Erzählungen

Geschichten aus dem Biedermeier II. Sieben Erzählungen

Biedermeier - das klingt in heutigen Ohren nach langweiligem Spießertum, nach geschmacklosen rosa Teetässchen in Wohnzimmern, die aussehen wie Puppenstuben und in denen es irgendwie nach »Omma« riecht. Zu Recht. Aber nicht nur. Biedermeier ist auch die Zeit einer zarten Literatur der Flucht ins Idyll, des Rückzuges ins private Glück und der Tugenden. Die Menschen im Europa nach Napoleon hatten die Nase voll von großen neuen Ideen, das aufstrebende Bürgertum forderte und entwickelte eine eigene Kunst und Kultur für sich, die unabhängig von feudaler Großmannssucht bestehen sollte. Michael Holzinger hat für den zweiten Band sieben weitere Meistererzählungen ausgewählt.

432 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon