O du schöne, süße Samstagsnacht!

[376] Als ich jung noch war! Vom »armen Jungen« spricht man. Was leuchtet und klingt denn ununterbrochen herüber in diese wahnwitzige, steinkohlenrauchrußige Welt, als lauter Pfingstmorgen und Hochsommermondnächte aus dem Waldland! Hochsommermondnächte klingen? Und wie sie klingen! Heute hätte ich die Worte, kann sie aber nicht singen, damals konnte ich singen und hatte keine Worte.

Am Abend vor dem Sonntag, wenn wir uns schon alle ins Bett gelegt hatten, senkte ich mein Haupt nicht ins Strohkissen, sondern hielt es ein wenig in die Höhe, horchend, ob sie schon schnarchten. Und als ringsum alle Raspeln in vollem Gange waren, stand ich wieder auf – ganz behendig – kleidete mich an, rasch aber leise – und huschte hinaus durch die Dachluke. Zur Tür hinaus wäre ein bequemerer Weg gewesen, aber diese Tür winselte in ihren Angeln, gleichsam, als wollte sie Vater und Mutter wecken: Waldbauernleute! seid wachsam, euer Knab' schleicht um! – Der gute Vater hatte ja alles schon vergessen und meinte, auch die Zwanzigjährigen müßten in den Hochsommermondnächten gerade so gut schlafen und raspeln, wie die Fünfzigjährigen. Wann war denn das? Wo ist denn das?

Auf der Schachenwiese, wo die Ahorne stehen und wo zwischen den Ahornen in engen moosberandeten Rinnen ein Wasser rieselt: dort kamen wir zusammen: der Heidenmaxl[377] und der Graneggerhansjörgl und der Zettelbacherzenzl und andere, wie sie eben aus ihren Dachluken und Kammerfenstern und Wandspalten auch so hervorgehuscht waren. Kein einziger hatte die Erlaubnis zum »Gaffeln«, keiner war um eine solche Erlaubnis eingekommen – und doch waren sie da. Und nun huben die Waldbauernburschen an, verworfen zu sein. Sie legten einander die Arme um den Nacken und gingen hinaus über die flachen Felder. »Das Landleben hat Gott geben, so heiter und froh!« Zu zwei Stimmen sangen sie es und zu drei, und als der jungen Herzen Lust zu groß ward, da sangen sie keine Worte mehr, sie sangen nur Gesang und das Jodeln und Jauchzen klang in den Wäldern nach und hallte in den Wänden der Höfe, die dort und da herumstanden im freien Hage. Und wenn nun die Alten wach wurden, so brummten sie wohl gutmütig über die »Teuxelsbuben, die halt schon gar kein' Fried' geben mögen bei der Nacht!« und freuten sich an der Bravheit des eigenen Sohnes, der gescheit ist und ruhig in seinem Bette schläft. Und derselbe brave Sohn stößt gerade den allerhellsten Juchschrei aus, der draußen klingt...

Unten im Engtale ist der Hauch eines Nebelstreifens, am hohen Himmel steht der Mond in seiner klaren mildleuchtenden Scheibe. »Er ist nicht weit, er ist nicht nah, er ist da!« sangen sie. Auf dem kurzen Gras der Matten lag sein silbernes Licht, und schwarze Schatten der Burschen strichen darüber hin. Ein feuchtkühler Heuduft machte fast rauschig. Sternlein sprühten im Grase, bläuliche Funken zuckten in den Büschen, die Bäume standen mit ihren finsteren Zackerarmen und Wipfeln in einer fast drolligen Schauerlichkeit da. Gott, wenn man nicht einmal geschauert hätte vor den Geheimnissen der Nacht, wo wäre ihr Reiz? – Ganz leise huben sie wieder an:
[378]

»Wann ich geh,

Geh ich schnell,

Wann ich sing,

Sing ich hell,

Wann ich jauchz'

Gibt's ein' Hall'

Zu mein' Dirnderl im Tal!«


Laut ausschallten die letzten Worte, und das war das erste Anklingen an den eigentlichen, den Burschen selbst fast unbewußten Zweck dieser nächtigen Flüggezeit. Doch sie waren nicht allein wach. Unter dem Halmwerk rieselte wie ein ewiges Wässerlein das Zirpen der Grillen und vom jenseitigen Berge herüber klang zart und rein dreistimmiges Jodeln anderer Burschen, denn alle gesunden Knaben im weiten Waldlande sind heute eines Sinnes.

Der Zettelbacherzenz legte den Finger an den Mund: »Hört's, Buben, hört's, da ist der schwarz' Peterl dabei. Ich kenn' seine Stimm'!«

Unter den drei fernen Stimmen war eine so weich und schwingsam, vom blaudämmernden Mollton bis hinein ins hellste weiße Licht. Anders kann ich diese Klänge nicht beschreiben. Jetzt das innige Ineinanderschmiegen der drei Stimmen, jetzt das Emporklingen einer Schallrakete, daß allen Zuhörern ganz anders ward hinterm Brustfleck. Freilich, das war der Gesang des schwarzen Peterl und dem eilten wir jetzt zu. Talab, über die Wiesen und Wässer, bergauf im schwarzen Walde, und bald standen wir wieder auf mondheller Hochmatte, wo die Nachbarssänger waren.

»Was wollt's denn ihr da?« ließ uns ein ruppiger Bursch, der Pomperer Franz, an, dieweilen er seine Beine stramm auseinanderspreizte und die Hände in die Hosensäcke bohrte.[379]

»Wir haben auch euch nit gefragt, was ihr wollt's!« gab von unserer Seite der Heidenmaxl scharf zur Antwort.

»Freilich streiten werden wir! Oder gar raufen, versteht sich! Ich denk', wir wollen all' dasselbe. Singen wollen wir. – O du schöne, süße Samstagnacht!«

Der so sprach, das war der schwarze Peterl. Er war freilich schwarz in der Nacht, aber nicht schwärzer, als die andern. Er war ein schmaler, schlanker Stab, der da kerzengerade auf der Erde stand, den rechten Arm in die Seite gestemmt, den linken – . Der schlanke junge Knab' mit der einzig schönen Stimme hatte keinen linken Arm. Nicht einmal einen linken Ärmel zeigte seine Jacke, schnurgerade war die Linie herab von der Achsel bis zum Fuß. Und weil er auch keinen Hut auf hatte, sondern eine Zipfelmütze, so schien ihm der Mond jetzt so hell ins Gesicht, daß aus diesem fast wieder ein Mond ward, der auf uns andere das Licht gab. So weiß war sein Gesicht, aber für einen Vollmond zu schmal. Die runden Augen, und das Stumpfnäschen und der dreieckige Mund – sollten das Adam und Eva sein, wie im wirklichen Mond? – So närrische Sachen waren mir eingefallen, als ich mich nun nahe zu ihm stellte. Der Bursche war mir lieb, nicht allein, weil er ein so freundliches Gesicht hatte und so schön singen konnte, als noch vielmehr, weil das ein ganz merkwürdiger Mensch gewesen ist.

Vor so und so viel Jahren war eines Tages um die Weihnachtszeit beim Zeilbergbauern ein fremder Mann eingetreten, der hatte einen langen schwarzen Bart und ein kleines blasses Büblein bei sich. An der Stubentür stehenbleibend; sagte er mit langsamer und etwas singender Stimme das Christtagsevangelium auf und als er damit zu Ende war, piepste das Büblein: »Amen! Gloria in excelsis Deo!«[380]

Hierauf bekamen die beiden etwas zu essen. Als der Schwarzbärtige hernach Lodenmantel und Rückkorb wieder aufgepackt hatte, wendete er sich zur Zeilbergbäuerin und sprach: »Du schönes und gutes Muttergottesweib! Da habe ich ein Christkindel bei mir. Was gibst dafür!« Und schob ihr das Knäblein zu.

»So, ein Kinderschacherer seid Ihr!«

»Wenn du's nit willst kaufen, du Fromme, Unbefleckte du, so schenk' ich's dir!«

Aber sie nahm es auch nicht geschenkt. Sie hatte zwar selber keines, sie wußte auch nicht, was das ist, ein Kind. Ihr Leben war das Kochen und das Scheuern und das Waschen und das Fegen; das trieb sie jeden Tag vom frühen Morgen bis in die späte Nacht. Und als ihr Mann schon im Bette lag, scheuerte sie noch den Fußboden blank, auf welchem sein erdkrustiger Schuh etwa eine Spur hinterlassen. Nun, am heiligen Abende wusch und kochte sie erst recht, und als der Festkuchen in der Pfanne bräunlich-fett erglänzte, war der Mann mit dem langen Barte fort; an der Tür stand aber noch der Knabe, sog an seinem Finger und schaute mit runden Augen auf das prasselnde Herdfeuer hin, auf die geschäftige Bäuerin und auf den bräunlich-fetten Kuchen.

Es ist nicht aufgekommen, woher der Evangelisinger gekommen und wohin er gegangen war. Es ist nicht aufgekommen, wem das Kind gehörte. Dieses Kind wußte nur zu erzählen, daß es immer und ewig »mit dem Vater evangeligesungen« und Gloria in excelsis Deo gesagt, und daß es darauf immer etwas zu essen bekommen hätte. – Als alle Nachforschungen sich als vergeblich erwiesen hatten, führte der Zeilbergbauer den Knaben zum Dorfrichter und wollte es bei dem so machen, wie der Langbärtige es bei[381] ihm gemacht hatte. Der Dorfrichter sagte: »Oho, dableiben!« und hielt ihn am Arme fest. »Dir ist er eingelegt, du wirst ihn behalten und erziehen.«

»Da werd' ich ihn halt ins Wasser schmeißen,« antwortete der Bauer.

»So dumm reden sollst nit, Zeilbergbauer,« beschwichtigte hierauf der Richter. »In paar Jährlein hast an ihm einen waxen Halterbuben, wieder in paar Jährlein einen starken Knecht.«

»Den waxen Halterbuben und den starken Knecht kannst du haben, Richter!«

»Wenn's schon nit anders ist, so soll halt dieweilen das Dörfel zusammenschießen für den fremden Vogel, bis er zum Gemeindeboten oder zum Nachtwachter, oder zum Totengraber oder zu so was gut ist.«

So ist es hernach ausgemacht worden. Aber trotz des »Zusammenschießens« wollte den Knaben keiner nehmen und verpflegen; man wisse nicht, was aus so einem Kuckuck werden kann, man wolle keine Verantwortung leisten für so was. »Wer steht mir denn gut,« rief ein Ortsgesessener, »ob er mir nit eines Nachts mit der Brieftaschen davonlauft oder gar das Haus über dem Kopf anzündet!« So redeten sie eine Weile hin und her, bis dem lustigen Gebersepp der Einfall kam: »Aber Jesses, Leutel, wann ihn schon keiner willig nehmen mag: ausspielen!« – Das Kartenbüschel her, um den Ratstisch gesessen. »Schwarzpeterl! Wem er in der Hand bleibt, der muß den Buben ein Jahr behalten. Nachher, wenn's Jahr aus ist, spielen wir wieder.«

So ist es geschehen, das arme Knäblein ist auf dem Eichelbuben, als dem »Schwarzpeterl« gestanden und dieses Blatt ist dem halbblinden Schusterzanggel in der Hand verblieben. – Das war just nicht schlecht geraten. Der Schusterzanggel[382] war ein armer Mann, und solche Leute sind nicht die Unbarmherzigsten. Er brachte den Knaben seiner alten Schwester heim, wie man einen Taschenfeitel oder einen Feigenkranz heimbringt, den man im Spiel gewonnen hat. Die alte Schwester schlug zuerst ihre Hände zusammen über die Frevelhaftigkeit, ein Menschenkind auszuspielen wie einen Sack Nüsse. Dann nahm sie den Kleinen unter Seife und Kamm in die Arbeit, und dabei knurrte sie: »Hat's bei uns derweil für zwei g'längt, wird's für drei auch g'längen. Und ihner Zusammenschießen brauch' ich gar nit.«

Die zwei alten Leute huben nun an, ihr Knäblein sauber herauszuputzen, ja sogar es in die Schule zu schicken. Und als der Lehrer davon sprach, daß der Kleine sich brav aufführe, gar nicht dumm sei und besonders Neigung für Musik zeige, da bildeten sie sich einen großen Fleck ein.

Als das erste Jahr zu Ende ging, schwieg der Schuster Zanggel sein still, und die Gemeinde machte auch keine Anstalt, den Knaben aufs neue auszuspielen. Der Name »Schwarzpeterl« aber ist ihm geblieben, obschon er auf den heiligen Adalbert getauft gewesen sein soll. In den Frühherbsttagen, wenn die Schulvakanzen waren, huben bei den Bauern die Nachfragen an, ob der Schwarzpeterl nicht zu haben wäre zum Viehhüten. Da wurde er zu den Höfen ausgeliehen, zuerst gegen ein Vergelt's Gott, später gegen einen Sack Kartoffeln oder ein Scheffel Korn, an die Schustersleute zu entrichten. Der Knabe war anstellig, gutmütig und immer heiter und jetzt fiel dem Zeilbergbauern wieder das Ausspielen ein. »Was soll denn immer nur einer den Nutzen haben vom Bengel?«

Einem merkwürdigen Fehler war der Schwarzpeterl anfangs verfallen gewesen, von dem die Schustersleute erst viel später sprachen, als er schon lange abgewöhnt war.[383]

Wenn niemand sonst zugegen, ging er in das Vorratskämmerchen, nahm sich Weißbrot, strich Butter drauf, aß es und trank Rahm dazu. Der weiße Schnurrbart an der Lippe ward eines Tages zum Verräter, allein der Junge sagte rasch: »Amen, Gloria in excelsis Deo!« und glaubte, die Sache damit beigelegt zu haben. Der Zanggel mußte es ihm dreimal sagen und das drittemal aufschreiben – mit dem Buchstäbchen auf den Rücken, daß alles Unerlaubte verboten ist. Nie hat er sich dann aber auch einen Buchstaben besser eingeprägt als diesen.

Eine ganz ungeahnte Verwendung für den Schwarzpeterl hatte der Schulmeister gefunden. Er unterrichtete ihn im Gesang, und nun konnte der Knabe sein »Gloria in excelsis Deo!« des Sonntags auf dem Kirchenchore singen. Die Tochter des Schulmeisters tat noch ein übriges und lehrte ihn das Zitherspielen. Und das war seine Freude. Und jetzt war das arme Schusterhäusel auf einmal voll Musik geworden.

Mittlerweile war der Junge soweit erwachsen, daß er sich nach Erwerb umsehen mußte, um sich und seine Zieheltern zu ernähren. Ein Bauernknecht zu werden wäre ihm schon recht gewesen, doch von einem Bauernknechte konnten zwei alte Schustersleute nicht leben; er müßte nur – wie ihm der Heidenmichel riet – Tabakraucher werden, denn Tabakraucher hätten immer Geld, nur daß er es nachher an statt zu verrauchen, dem blinden Zanggel geben könnte.

Draußen im Tal die Eisenbahn braucht Leute und sie pfeift das Geld, welches sie von Wien mitbringt, nur gleich so zur Lokomotive heraus. Der Bursche bewarb sich um einen Bahndienst an der Station Mitterdorf und erhielt ihn leider. Schon in der zweiten Woche seiner Eisenbahnzeit hat sich das Unglück zugetragen. Bei Glatteis hatte[384] er zwischen mehreren Zügen hindurch über die Bahn zu gehen, um drüben einen Waggon auszukoppeln, er strauchelte, fiel hin und eine rasch vorüberfahrende Maschine schnitt ihm den linken Arm weg. Als man ihn aufhob, sagte er, es wäre weiter nichts geschehen, nur die Hand schmerze. Die Hand lag aber sieben Klafter weit draußen an der Böschung. Er blutete nicht stark, denn der kurze Stumpf an der Achsel war fast keilförmig geguetscht. Dann schlief er ein, der Schwarzpeterl, und als er erwachte, lag er in einem großen Zimmer, von Leuten umgeben, die sich mit ihm beschäftigten. Daneben auf der Bank in einem großen Waschbecken lag eine Menschenhand. Der Peterl tat einen Blick darauf hin, einen unsteten, traurigen Blick, denn jetzt wußte er wohl, was es gegeben hatte. Als ihm dann noch ein großer, abgesprungener Knochen aus der Gelenkshöhle genommen worden war, konnte die Heilung beginnen, die in einigen Wochen sich vollzog. Und nun sollte der Bursche wieder aufstehen, umhergehen und zusehen, wie er sich fortbringt. Die Eisenbahn gab eine kleine Albfertigung, aber die Schustersleute wehrten mit den Händen ab: Gott verhüte es, daß sie ein Blutgeld nähmen! – So nahm's der Bursche und ließ sich davon ein graues Steirergewand machen, mit grünen Aufschlägen; er erspart ja schon dabei. Er erspart den linken Ärmel.

Nach dieser Wendung hub der Schwarzpeterl an, in der Gegend zu hausieren, aber nicht wie einst mit seinem Gloria in excelsis Deo! sondern mit der Bitte um Arbeit. Man beschäftigte den guten Burschen, wo und wie es möglich war, denn sie hatten Mitleid mit ihm und sie hatten ihn lieb, weil er immer noch so gemütlich war. Außer Kost und Gewandung bekam er von den Erkenntlichsten auch noch Tabaksgeld, welches der alte Zanggel fleißig vernebelte.[385]

Dieses bißchen Rauch und dieses bißchen Peterl, sonst war ihm ja nichts übriggeblieben von der lieben Welt. Die Stimme des Burschen hatte nicht gelitten, nur daß sie noch weicher und lieblicher geworden war; und wenn sie im Kirchenchore so recht innig klang, da dachten die Leute: »Mein Gott, der Einhandel! – Aber das Zitherspielen!« Er durfte nicht dran denken, daß jemand war, in irgendeinem Hause dieser Berge, der sein Zitherspielen schon gar besonders gerne gehört hätte.... Ihm zuckten ordentlich die Finger, und ihm war, als könne er die Finger noch auf die Tasten setzen alle fünf, aber wenn er hinschaute, war keine Hand da. Arbeiten hingegen gab es mancherlei, die er verrichten konnte, Garbentragen, Holzklauben, das Vieh hüten, bei Kohlenbrennereien mittun, kleine Kinder wiegen. Zu letzterem war er besonders geeignet, weil sein Singen die Kleinen so leicht in den Schlummer brachte und weil sein schmales blasses Gesicht so gutmütig und schalkhaft dreinschaute, wenn sie wieder aufwachten, daß sie ihre junge helle Freude an ihm hatten.

Zu Allerseelen ging er auf den Kirchhof und besuchte das Grab. Nicht Vater und nicht Mutter lagen dort, und auch sonst kein Mensch, der ihm nahe gegangen. Und dennoch stand er still am Friedhofzaun unter der Birke und betete ein Vaterunser. Dort unter dem Rasen lag sein linker Arm... Und wenn er nach dem Vaterunser nicht gleich davonging, sondern ins Denken kam, da war dem Burschen, als stünde er vor seinem eigenen Grabe, und er dachte der Hand nach, was sie ihm gewesen war und getan hatte, wie kundig sie auf der Zither gespielt, wie er ihr einmal mit der Sichel in den Mittelfinger hieb, daß sie blutete und wie nachher das schreckliche Rad – die arme Hund! – Ganz so, wie man einem lieben Menschen nachdenkt. –[386] Also das ist die Geschichte vom Schwarzpeterl, der nun in der Mondnacht auf der silberhellen Hochmatte dastand wie ein schwarzer Stab und im Vereine mit dem Hansjörgel das Lied sang: »O du schöne, süße, sternhelle Samstagsnacht!« welches schließlich in den Jodler ausging: »O du schöne, o du süße, o du schöne süße dulieh, dulioh, dulieh!«

Nach diesem Gesange machte sich der Bursche ein wenig abseits gegen den Holzzaun hin, und als er über denselben steigen wollte, lief ihm der Pompererfranz nach, faßte ihn am Joppenflügel und sagte: »Oho, Peterl, wohin denn?«

»'s ist Zeit zum Schlafengehen. Laß mich aus.«

»Bist nit jetzt im Grundelhof?« so der Pomperer.

»Freilich im Grundelhof,« so der Peterl.

»Du hörst, der Weg über den Zaun führt nicht zum Grundelhof, der führt zum Moosebner.«

»Wenn er zum Moosebner führt, so werd' ich halt zum Moosebner gehen,« entgegnete der Einarmige.

»Schwarzpeterl,« knirschte der Pomperer und hielt ihn fest, »zum Moosebener gehst du mir nit, daß du's weißt! Die Moosebner Luiserl gehört mein

»Seit wann denn?« fragte der Peterl.

»Noch ein Wort, und du liegst auf dem Steinhaufen, daß deine Trümmer gewiß kein Mensch mehr zusammensucht, gewiß keiner!«

Die Moosebner Luiserl war ein armes braunhaariges Dirndl, eines böhmischen Deichgräbers Tochter, die im Moosebnerhof diente. Der Deichgräber war gestorben, sie hatte keinen Verwandten und Schutzhaber auf der weiten Welt. Nur den Peterl hatte sie heimlich gern, und er sie, und wir anderen wußten das. Und als der Peterl und der Pomperer nun um dieses Dirndl stritten, waren wir anderen[387] auch da, und der Maxl sagte keck: »Ich denk', Pomperer, so spielen wir nit! Du hast eh deine Heubachjula, die du heiraten willst! Was brauchst denn auch noch dem Peterl seine Luiserl?«

»Das geht dich nichts an!« fuhr der andere auf.

»Das wird uns wohl was angehen, mein Lieber!« sagte der Hansjörgel, und ich sagte es auch. »Wenn sich zwei gern haben und ein dritter mischt sich drein! Mir wäre das zu dumm. Und zu schlecht. Und wenn du glaubst, daß sich der Peterl nit wehren kann, weil er nur einen Arm hat, so bist stark auf dem Holzweg. Der Peterl hat mehr Arme, als wie du, wenn's auf Ernst ankommt. Auslaß ihn!«

Als der Pomperer sah, daß sich alle Arme gegen ihn erhoben, mit Ausnahme seiner zwei eigenen, ließ er den Peterl los und stahl sich bald darauf davon, hinaus durch die Büsche. Der Schwarzpeterl ging hinab gegen den Moosebnerhof. Wir anderen auch unserer Wege, teils singend, teils schweigend und nachdenklich. Nicht lange hernach und jeder war auf seinem besonderen Steige. Als ich an ein schönes stilles Gehöfte kam, war's auch nicht das meines Vaters. O du schöne, süße, sternhelle Samstagsnacht! – Wenn ich tagsüber an diesem Hofe vorübergegangen, hatte der Kettenhund allemal einen Bissen Brot in den Mund bekommen, so waren wir gute Bekannte und er sagte nichts. Vor dem Hause rieselte der Brunnen sein glitzerndes Silberkettlein in den Trog. Das mondschimmernde Fenster war leicht zu finden. – O du süße, o du schöne, süße dulieh, dulioh, dulieh!

Bald nachher trug es sich zu, daß der Schwarzpeterl einige Zeit in unserem Waldbauernhause war. Wir hatten den Weber auf der Ster, und der brauchte einen zum Garn haspeln. Dazu war der Einhandel ganz recht. Mit den Haspeln und Spulen ist nicht immer gut auszukommen. Wer[388] da weiß, was schon ein einziger Faden für Tücken hat! Und erst hundert Fäden! Durcheinander, ineinander, gegeneinander, ein unlösbares Gewirre, und doch soll keines sein. Die Weber leiden alle an Gelbsucht, der Schwarzpeterl aber blieb weiß und rot im Gesicht und sein Auge blieb veilchenblau und sein Schnurrbärtlein nußbraun. Er verrichtete seine Arbeit mit so großem Fleiß und Geschicke, daß der Weber selbst ihm versprach: »Peterl, du kannst dich drauf verlassen, ich nehme dich bei guter Löhnung zum Gesellen, sobald dir dein linker Arm wieder nachgewachsen ist.« Der Bursche schaute auf derlei Späße gutmütig drein; solcher Spott ist freilich traurig, aber nur für den, der ihn macht.

Einmal des Abends, als ich mit meinem Ochsengespann vom Felde heimkam und den Tieren das Joch von den Hörnern löste, kam der Peterl auf mich zu, betastete mich an der Hand und sagte: »Dir vergess' ich's auch nit.« Mir war's unklar, was er da meinte, der Hansjörgel klärte mich am nächsten Sonntage auf. Der Peterl habe ihm mitgeteilt, sein Lebtag und in die Ewigkeit hinein und durch dieselbe auf der anderen Seite wieder hinaus könne er keine besseren Kameraden haben, als den Hansjörgel und den Marxl und den Zenzl und mich. Wegen damals – mit dem Pomperer. – Ich wußte natürlich schon seine märchenhafte Geschichte, und da er ein so lieber Kerl war, so schwante mir, es müsse mit ihm noch einmal eine wunderbare Wendung nehmen. Jener Evangeliumsänger, der Mann mit dem langen schwarzen Barte, müsse eines Tages erscheinen und den Burschen wieder zu sich nehmen und etwas unerhört Großes aus ihm machen.

Und dann war's im Herbste, am Tage des heiligen Gallus. Sah ich den Peterl unten am Bache kauern zwischen Weiden, deren spitze Blätter schon gelb geworden waren.[389]

Ich dachte, er halte dort die Angelschnur ins Wasser und warte auf Forellen. Ich ging zu ihm hinab, weil es ein Vergnügen ist, zu sehen, wie die weißbauchigen Fische gleich lebendigen Fragezeichen an der Schnur schlängelnd herausgeschleudert werden. Aber er angelte nicht. Er lag, den Arm um einen Stein geschlungen, das Gesicht ins Moos gepreßt. Als er mich sah, wollte er auf und davon, ich vertrat ihm den Weg. »Gut, so geh' ich da!« rief er schrill und wollte ins Wasser springen.

»Was ist dir geschehen, Kamerad?«

»Mir?« rief er, »mir geschehen?« lachte er wild. »Laß mich allein. Mir hilft niemand.« Und dann – weil ich ihn doch nicht davonließ – brach er los: »Meinen liebsten Menschen hab' ich unglücklich gemacht. Hätt' ich ihm's lieber gelassen, dem Pompererbuben, der hätt' sie heiraten können. – O du verfluchte Samstagsnacht!«

Mehr hatte er nicht zu sagen gebraucht. Merkte gleichwohl auch, daß es da keinen Trost gab. Der Fisch im Wasser konnte nicht stummer sein, als ich auf das Bekenntnis. Ein armes Blut, ein Krüppel und solche Pflichten!

»Peter,« sagte ich endlich fast grollend. »Geh' hinauf. Da beim Bach hast nichts zu tun. Geh' hinauf, der Weber hat gerufen.«

Da ist er langsam hinausgegangen gegen das Haus.

Als wir anderen in einer nächsten Samstagsnacht wieder zusammenkamen auf den Hochmatten, sangen wir nicht, sondern besprachen uns, was da mit dem Peterl und der Seinigen zu machen wäre.

Der Pompererfranz schupfte die Achseln: »Was wird denn da zu machen sein? Nichts. Er ist ja nicht angenagelt in Alpel, wenn's ihn scheniert.«[390]

»Wir reden ja nit von ihm, wir reden von ihr!« sagte der Hansjörgel.

Der Pomperer tat einen Lacher. »Von ihr! hi hi!«

In der Gegend wurde es bald laut. »Jetzt kunnten wir ihn ja wieder einmal ausspielen,« meinten die Bauern, »jetzt stehen auf dem Eichelbuben zwei oder gar drei!« Die alten Schustersleute sannen hin und sannen her, wie sie es denn einrichten sollten in ihrer Hütte, daß die Menge Leute Platz hätte. Der Zanggel war bereit, oben unter dem Dache zu schlafen auf Brettern, seine Schwester wollte sich mit Stroh im Keller ein leidliches Nest bauen neben den Kartoffeln. Wenn der Kartoffelhaufen nur nicht gar so klein wäre!

Zur Magd Luiserl hatte der Moosebner gesagt: »Na, Dirn! Zu Neujahr kannst dir einen anderen Platz suchen, weißt eh, warum?« Sie sagte nichts darauf, als: »Ja, Bauer, ich werde schon gehen.«

Als es gegen Weihnachten ging, und der Peterl eines Tages ins Heidenhaus kommen sollte, wo es Arbeit für ihn gab, kam er nicht. Vom Zanggelhäusel war er fortgegangen. Zur selbigen Zeit kam eines Morgens im Moosebnerhause auch die Luiserl nicht zur Frühsuppe. Die Bäuerin ging in die Kammer, um nachzusehen, ob der Dirn was fehle. Sie war nicht da und das Bett stand aufgeschichtet wie am Vorabende. –

Anfangs war keine große Nachfrag' nach den zwei Leutchen, allmählich hub man doch an zu reden und ein wenig nachzuforschen. Man fand keine Spur. Nur jemand wollte gehört haben, daß um die Weihnachtszeit im Dorfe Fischbach zwei Bettelleute herumgesungen haben sollen vor den Häusern. Er, ein junger blasser Mensch mit nur einem Arm, habe das Evangelium gesungen, sie ein noch fast kindisch[391] junges Weibsbild, mit vielen Tüchern eingewickelt bis auf die Nasenspitze, habe allemal darauf »Amen, Gloria in excelsior Deo!« gerufen.

Und das war die letzte Nachricht. Ich denke, sie sind in ihrer Einfalt und Liebherzigkeit ganz harmlos ins allertiefste Elend hineingegangen und in der Verlassenheit ödesten Wüste haben sie sich selbst noch das Sterbelied gesungen:

»Gloria in excelsior Deo!«

Quelle:
Peter Rosegger: Waldheimat. Band 2: Der Guckinsleben, Gesammelte Werke von Peter Rosegger, Band 13, Leipzig 1914, S. 376-392.
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