Die Stadt

[7] Er kam vom Hügel. Ein ferner Stern zog weiß

Die Straße zur Tiefe. Die Füße sprangen schnell,

Die Augen stachen durchs gelbgeballte Haar.

Die Nacht sprang aus der Erde, blau und leis.

Der weiße Stern stand weit, die Nacht lag hell.

Die Nacht zerriß den Stern zum weißen Paar,

Die Straße wich zurück in blauem Lauf,

Die Sterne zuckten hastig höher auf.

Ein Wind zog herüber, irr von Geschrei und heiß.


Er lief schon schwankend. Glückselig sah er sacht

Die Straße rollen rötlich zum silbernen Schein

Der riesigen Türme. Deren Lampen schwangen

Spielend mit den Ufern der blitzenden Nacht

An der Straße über verblassendem Stein.

Die Füße hoben sich zum Flug und sprangen.

Die Nacht wurde klein, die Straße raschelte still.

Da schossen die Lampen zur Höhe und rissen schrill

Die Türme in den dunklen, ungeheuren Schacht.


Dunkel von Röcken und Hüten schwankt eine Wand;

Nur ihm hing nackt das gelbe Haar ums Gesicht.

Das Schattengewühl der Menge zog zur Stadt.

Da rissen die Türme die Straße breit ins Licht,

Die Lampenaugen, ewig wach, zuckten matt

Über den Glanz der Hüte ins steinerne Land.

Geschrei der Menge lief um die steilen Flanken

Der dunklen Terrasse. Sie saßen lässig und tranken.

Da sah er zwischen den Türmen das Seil gespannt.


Ein nackter Schatten wiegte es. Er blieb stehn,

Die Menschen wichen schweigend zu den Seiten.

Er stand unterm Seil. Sie rückten die Hüte nicht.

Er sah die nackte Frau übers Seil hingleiten.

Er stand ohne Atem. Er sah hoch oben das Licht[7]

Laufen über die hellen Schenkel und Zehn.

Zur Stadt hinter den Türmen drängte die Menge vorbei.

Ein Wind flog über die Mauer, heiß von Geschrei.

Niemand im schwarzen Gewühl hatte aufwärts gesehn.


Die Augen der Lampen zuckten über die Frau.

Das Seil schwankte kreisend, als sie schnell sprang.

Sie war ernst, hoch oben. Ein Turmlicht zischte weiß,

Sie lächelte im Sprung zur Seite, wo es sang.

Das Turmlicht drückte ihr Haar im Schattenkreis

Hell auf die Nacht. Das Licht reckte sich lau

Zum blonden Stern des Bauchs. Ein Schattengürtel band

Sich schmal um sie. Flog hinauf. Verschwand.

Sie bückte sich und hob die Arme ins Blau.


Sie sprang ernst. Sie sah ihn und lächelte leer.

Die Menschen liefen zur Stadt durch die Mäuler der Steine.

Er stand im Gewühl ohne Atem. Das Turmlicht pfiff.

Über den steilen Glanz ihrer tanzenden Beine

Rannen siedende Blasen des Lichts hin und her –

Als sie plötzlich ins blaue Luftlicht griff.

Sie schwankt schon grinsend. Zur Nacht hinauf krallen

Zwei Falten. Aber niemand bleibt stehn. Sie muß fallen!

Der helle Stern ihres Bauchs zittert so sehr.


Die Häuser taumeln. Blaß steigt ein weiter Kreis

Von bleichen Mauern auf im grünlichen Schein. –

Die Lampenaugen, ewig wach, zuckten matt

Über blaue Terrassen. Die Straßen raschelten leis.

Im Schattengewühl der Menge stand er klein.

Er lief klein und wild. Die Nacht sprang aus der Stadt.

Er lief über den Hügel. Die Nacht lag hell.

Fern stand ein weißer Stern. Die Füße sprangen schnell.

Ein Wind zog herüber, bunt von Geschrei und heiß.

Quelle:
Ludwig Rubiner: Der Dichter greift in die Politik. Leipzig 1976, S. 7-8.
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