Änderung der Welt

[97] Je geringer in Europa die Freiheit wurde, um so mehr geriet sie in Misskredit. Wir wollen uns doch nicht selbst täuschen: Wichtiger ist die Freiheit selbst als ihre Definition. Jeder Mensch weiss in Wahrheit, was für ihn Freiheit ist. Weiss er es nur unklar? Das schadet nichts. Selbst in dieser Unklarheit kann er diesmal handeln. Innerhalb der vergangenen hundert Jahre ist aus dem grossen Programm nur die Liberté uns geblieben. Bleiben wir zumindest bei ihr. Seien wir mutig genug, hier Spezialisten zu sein, Schuster, Klotzköpfe: arbeiten wir an der Freiheit. Es ist genug zu tun!

Zum Beispiel: die Erfolglosigkeit der internationalen Sozialdemokratie im Internationalismus kommt von der Beruhigungslehre, die sich auf Marx stützen wollte: die menschliche Gesellschaft gleite durch gradweises »Hineinwachsen« in den neuen Sozialismus. (Und nie zu vergessen: Alle Prophetie,[97] alle Beschreibung im Marxismus ist schon lange vor dem Krieg falsch gewesen. Doch alle Forderung in ihm eine unermessliche ethische Leistung!)

Ein furchtbares Symptom ist die Vernachlässigung der untersten, elendesten Gesellschaftsschicht. Der Unorganisierbaren. Der ganz Unbedingten, die nichts zu verlieren haben, der stets ausserhalb Stehenden, zu jeder Änderung Bereiten, und die die unheimlichste, feinste Witterung für den Änderungsmoment haben. Das ist der Mob.

Man hat den Mob – das wundersüchtigste Gebilde der heutigen Gesellschaft – der Heilsarmee überlassen (weil man selbst nichts Unbedingtes, keine Wunder, hier in der Gegenwart: keine Änderung! zu vergeben hatte). Das ist irreparabel. Wilhelm Weitling hatte noch ein schärferes Auge für diese Wirklichkeit als seine staatsfrohen Nachfolger, er hatte die Erstmaligkeit des Sehens. Kautsky, dessen Genauigkeit die unheilbare Vernachlässigung merkt, hat eine Hilfstheorie zum Zwecke der nun gebilligten Vernachlässigung des Mobs aufgestellt. Danach sei der Mob ein wenig wechselndes und unfassbares Gebilde. Aber es ist zu erinnern, dass das organisierte Proletariat dem Kapitalisten vergangener Jahre genau so mystisch unfassbar war, wie heute der Mob dem Organisierten.

Die Besitzenden haben Tradition. Der Mob hat nur eine: zu sein. Ob er sich »verändert« hat– und bezeichnenderweise sagt dieser fast geniale Popularisator hier nicht »entwickelt« –, kann auch Kautsky nicht wissen. Aber was wir alle wissen können: die Reaktionsart des Mobs, seine Wirkungsfähigkeit hat ihre putschistischen Formen seit dem Altertum nicht verändert. Schliesslich hat der Mob der Juden aus anarchischen Revolten das Christentum gemacht, für wilde, atavistische Gefühlsklänge von volksmässig versunkenem babylonischen[98] und iranischen Geister-und Prädestinationsglauben; gegen die aufgeklärten Sadducäer. Und die gesellschaftlich und kulturell elendeste Bevölkerungsschicht des endenden Mittelalters hat die Reformation gemacht, gegen die aufgeklärten Humanisten. Also der Mob ist da und regt sich. So unfassbar scheint er doch nicht zu sein, die Ruinen der Häuser, die er gebrannt und geplündert hat, sind ziemlich fassbar. Und, sonderbar, wenn die Regierungen ihn brauchen, bekommen sie ihn so sicher zu fassen,dass sie für manche gewünschten Wirkungen nur auf den Signalknopf drücken müssen. Partei. Partei! Für die Freiheit! Es ist genug zu tun.

Methoden?

Zum Zwecke der Auspressung von Menschenkraft hat Taylor in Amerika ein System ausgearbeitet. In Hunderten amerikanischer Riesenfabriken wird seit langem jeder Arbeiter gemessen, im Detail seiner Arbeit genau beobachtet, kinematographiert, in den Resultaten seiner Arbeit sukzessive kontrolliert. Jeder Einzelne von Hunderttausenden.

Beweis: dass man auch in grossen Volksmassen wirklich zu jedem Individuum gelangen kann. Der Erfolg des Taylorsystems kommt von seiner Wahrung eines Standpunktes. Es ist der Standpunkt des reinen Nurkapitalismus, unter dessen Druck jene konkrete, doch noch hinreichend allgemeine Arbeitsindividualformel ausgegeben wurde.

Aber zu erstreben ist: Der Ersatz jener Besitz-Macht-Kapitalisten-Abenteuer-Endabsicht durch eine rein geistige Endabsicht. Rein geistig, das sagt, von mächtiger Triebkraft (keine evolutionistischen Surrogate). Etwa auch nur ein winziges Wunschtum Freiheit; ihre Konkretisierung: Unabhängigkeit. Und eine individualisierende Aufklärungsarbeit in den Massen, geschult an der rapiden Riesenformel des Taylorsystems.[99]

Welche Resultate!

Zu Anfang des neunzehnten Jahrhunderts steht die bewegende Politik unter dem Druck der Nationalidee. In der zweiten Hälfte unter der Rassenidee. Am Ende bis in diesen Krieg dominiert die Staatsidee und verschlingt die beiden andern oder speit sie nach Bedürfnis aus.

Ist es nicht höchste Zeit, sich über die völlige Gewesenheit dieser drei Ideen klar zu sein! Mit ihnen kann man sich die Erde immer noch nur so platt wie eine gemalte Landkarte denken. Sie schliessen keine Spur der Vorstellung in sich, dass wir auf einer Kugel leben, und dass wir alle gegenwärtig sind; dass unsere Handlungen nicht bloss physikalisch natürliche Linie, Druck und Gegendruck sind, sondern in einem Moment gleichzeitig überall auf der Erdkugel – die ... von ... Menschen ... bewohnt ist ... – wirken.

Merkwürdig, die realen Hilfsmittel der »grossen« Politik stammen aus unserer Zeit, aber ihre Absichten aus dem Mittelalter. Das Mittelalter führt die Kriege.

Höchste Zeit, dass die Erdgenossen sich auf ihr Erdentum besinnen.

Tellus = die Erde. Tellurismus = die Erdkugelpolitik. Aber wir können nicht länger warten.

Was sind Sie? – – Ich bin Tellurist!


Es geht ja nicht um Gefühle.

Es geht nicht um Sterne, nicht um die Vergangenheit, nicht um Unsterblichkeit. Nicht um Ruhm. Nicht um Unendliches; es geht nicht einmal um die Zukunft. Lassen wir doch das Pomposo. Es geht nur um unsere kleine Erde. Es geht um die gegenwärtigste Gegenwart.

Wir haben ja noch alles versäumt. Wir sind zu vornehm. Wir sind Ökonomiker, Ausbeuter, Ausgebeutete, Entwicklungsgläubiger,[100] Zukunfts-Symboliker. Wir sind ja immer noch Erben.

Wir sind noch nicht Politiker. Muss nicht dies unsere erste, einzige Absicht werden? direkt sein. Handelnd, ändernd. Hebel sein. Politisch sein!

Wir rechtfertigen uns zu wenig vor unserer geistigen Herkunft. Wir lassen uns noch alles, alles vom Fatum bieten. Wir sind tot – – oder noch zu beruhigt mitten in allem; noch nicht genug Ausserhalb. Sind wir Gegebenheitsgewebe um uns? Wir sind noch nicht ausgestossen genug. Handlungen geschehen wider erste, tiefste, entschiedenste Tatsachen unseres Erdendaseins. Wir sind noch zu eifrig gefällig, zu sehr Psychologen, zu verständnisinnig. Wir vergassen ganz unser eigenes Wissen von uns selbst. Unseren Standpunkt. Unsere Freiheit zu urteilen. Selbst zu handeln, zu hebeln, zu ändern.

Kameraden, stehen wir nicht im grossen Bund des Geistes?

Sind wir nicht Geschütz und Sprengstoff zugleich? Sind wir nicht freie Flammen, zuckend und heiss genug, Totes zu zerstäuben, Hartes zu schmelzen, diese Welt flüssig zu machen. Sind wir nicht Geistige, um alle feurigen Flüsse in den Bund des Geistes zu giessen!

Mit unserer Geburt bekamen wir die Gabe, die Welt zu ändern. Ändern wir. Ja, bessern wir, ganz simpel. Irgendwo höhnt ein quietistischer Idiot: »Weltverbesserer!« O Freunde! Freunde, die ihr wirklich da seid. Die ihr noch nicht zu sprechen wagt. Freunde! hier ist unser Ehrenklang, unsere Fahne, der Salut unserer Brüder. Hoc signo.

Seien wir Weltverbesserer, alle. Wir haben es nötig. Vielleicht wird dann kein Geniesser mehr unsere Toten mit ihrem »Erlebnis« überrumpeln. Nieder das Erlebnis! Wir haben genug.[101] Seien wir Politiker, trocken, hart, listig, gütig, erschütternd. Verantwortlich für alle Menschen unserer Erde.

Und ein Physiker wird uns sagen, dass Flammen nicht nur brennen, sondern auch singen können.

Quelle:
Ludwig Rubiner: Der Dichter greift in die Politik. Leipzig 1976.
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