Der erste Tag

[85] Alles, was gewesen ist, ist falsch. Jeder Grad bis zu diesem jetzigen, ersten allerersten Moment des Seins ist Anhäufung, Sandsack, Verhau; Hindernis ausserhalb jedes Wertes, Aufenthalt. Trägheitswiderstand gegen die Besinnung auf unsere Existenz aus unserer geistigen, geistigen Herkunft. Wir kommen aus dem Geist und sind in einemmal da. Jeder Tag, den ihr bis heute gelebt habt, war zum tausendsten Male Tod, nutzloser Tod. Nutzlos wie jeder Tod.

Wär das Gewesene nicht Irrtum, Wertlosigkeit, Kasemattentum, so wär es nicht vergangen.

Zerstört das Gewesene!

O wie namenlos noch nicht dagewesen ist alles, was ist. Wie unglaublich oft noch nicht dagewesen ist diese Welt. O Glück, da die Menschen tausendmal ihren ersten Tag haben.

Weiss man auch, dass die Erde barst! Inseln schwollen aus dem Meer, feurige Schwerter schweiften: an dem Tage, da Euklid fand, dass das reine Denken des Menschen und die Wirklichkeit – unerhört – sich decken können; bewiesenermassen![85] O erster Tag der geometrischen – Prädestinationslehre. Erster Tag des Euklidismus. Erster Tag des ersten Beweises. Erster Tag des Belauerns, wie eine Denkfolge zur Wirklichkeit schleicht. Wie phantastisch vorzustellen die Erschütterungen der Erde vor Adam Euklides. Erster Tag. Schöpfung.

Dagegen: die blosse Deskriptionsrolle Kants, der versteht und beschreibt, dass jene angebliche Wirklichkeit im Denken enthalten ist. Der Unterschied etwa wie zwischen dem Apostel Paulus und Exzellenz Piefkes »Wesen des Christentums«.

Bitte nicht rückwärts missverstehen! Die Euklidwelt ist tot. Da heut die ganze euklidische Geometrie von jedem Schüler schnell gelernt werden kann, steht Piefke unserer Zustimmung näher als die Apostel.

Ihr Herzen, wahre aufrichtige Herzen, meine Herzen, zu allererst müsst ihr flache Rationalisten sein, flache Rationalisten! Sonst existiert ihr nicht lebend, zeugungsfähig, gegenwärtig. Sonst steckt ihr an modrig Gewestem, seid Rezipienten, Reproduzenten, Kostümstücke, mysteriöse Historiker. Nur gewöhnlich, unoriginell, ohne Tiefe und Geheimnis begreifend, dass ihr günstigerweise gerade jetzt den Moment zum Leben erwischt habt, nur so flach rationalistisch – so brutal zeitgemäss allein – könnt ihr schöpferisch sein. Ganz Anfang. Ganz ersttägig. Ganz Adam.

Seid Adam!

Quelle:
Ludwig Rubiner: Der Mensch in der Mitte, Potsdam 21920, S. 85-86.
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