Nieder das Erlebnis

[88] Die sogenannte Intuition (man weiss: umfassendste lyrische Begründung vom grossen Praktiker der Einfühlung, Bergson) ist Begriffsmischerei. Für feine Geniesser, Connoisseurs, Mitmacher: eine Hilfsvorstellung zur Rechtfertigung ihres Schwammdaseins. Das ewige Aufsaugen fremder Wesen, und von fremden Wesen ewig Sich-Aufsaugen-Lassen, beides steht auf demselben vakuumhaften Plan der traditionellen Idée fixe vom Besitz. Nicht eintauchen! Nicht aus fremdem Munde reden! Einzig von Wert ist: Mitteilen, Überreden, Aussagen. Überzeugnis ablegen von unserer Gewisshelt Zu Sein.

Gewissheit, zu sein. Geboren zu sein. Einfach genug nur: zu existieren. Diese Gewissheit ist die tobendste, brisanteste, unaufhaltsamste Umwälzungsenergie; rasender als alle Sprengstoffe, blutiger, vernichtender, fatumhafter als alle Weltkriege. So durch alle Minen der Erde hindurch zerstörend, wie nur Schaffendes sein kann.


Anmerkung. Nur wer überhaupt den Mut hat, jeglicher Phänomenologie – als blosser naturaler Gegebenheit – die Möglichkeit zur Welterkenntnis von vornherein abzustreiten, nur der hat das Recht, gegen den bedeutenden Philosophen Bergson zu sprechen. Aber boykottieren wir endlich diese Geschäftsschreier, die den Philosophen Bergson, wegen Franzosentums, anheulen: »Schopenhauer-Plagiator!« »Rousseauit!«– So, – und Nietzsche hatte wohl nichts mit Schopenhauer? Und Goethe war wohl kein Rousseauit?


Quelle:
Ludwig Rubiner: Der Mensch in der Mitte, Potsdam 21920, S. 88.
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