Ludwig Rubiner

Homer und Monte Christo

Wir wissen alle vom Wunder. Wir sind seit unserer frühesten Zeit vorbereitet.

Jungen liegen nachts wach; durch die Türen hört man die Gesellschaft bei den Eltern. Man kann im Halbdunkel neben dem Bett gerade noch das Kreisen der Zeichnung auf der Tapete sehen. Die Blätter winden sich auf dem Grünlichen auseinander, als wenn man auf einer Leiter hochkletterte. Nach einigen Märschen der Augen tritt aus der Wand auf der nächsten Blume ein kleines blaues Feuer, rund wie eine Erbse, ein strahlender Kern. Darum her dampft es feurig hoch, die Flammen schlagen auf und nieder, über die ganze Wand hin um die Kinder. Sie sind ganz ruhig und neugierig, was geschehen wird. In dem Feuerkreis steht ein kleiner Mann mit dem langen weissen Bart auf, die Flammen gehen weg und laufen nur noch flach über die Wand hin. Die Jungen richten sich im Bett auf, der alte Mann beugt den Kopf und teilt einiges mit. Was er mitteilt, weiss der Junge schon; es ist aber angenehm und kräftigend, das alles bestätigt zu bekommen. Die Mutter kommt ins Zimmer, und ist erschreckt, dass der Junge im Bett aufrecht sitzt und die Linien in seinen Händen ansieht. Die Linien hören erst langsam auf, sich zu verschlingen. Die Mutter ist beunruhigt und sorgt, dass er schlafe. Der alte Mann aus dem blauen Feuerlicht ist manchmal in späteren Nächten wieder da.

Man muss zunächst diese Schöpfung der Kindheit, die fast jeder Mensch sich macht, hinnehmen ohne Ablenkung durch eine Erklärung oder das Sonderliche einer nur physiologischen Deutung.

Viele Jahre später, mitten unter den Leuten der belebtesten Grossstadtstrasse, wird der Mensch sich plötzlich eine Lichtsekunde[46] lang an seine Zusammenkunft mit dem Feuersmann erinnern. Oder, er geht einmal, des Spätnachmittags eines Sommers, vorbei an der rohen Ziegelmauer eines Amtsgartens; vor ihm, vielleicht mit müden Schultern, ein Berufsmensch, den er vom Rücken erkennt. Da ist die Kindertapete in Flammen. Er weiss sofort, was dieser Rechtsanwalt menschlich auszusprechen hätte. Er überschaut dieses Mannes Mitleben auf der Erde.

Jeder Mensch kennt die Augenblicke, wo hinein im Gewühl und gewöhnliche Dinge ein Aufscheinen fällt. Wir werden durchschüttelt; es ist ein Moment, der uns plötzlich auf eine Spitze stellt, wir übersehen alle unsere bisherigen Handlungen und die der anderen Menschen. Das Wunder. Jeder Mensch kennt das Wunder. Keiner wagt an das Wunder zu glauben, aber jeder weiss davon, am Ende ahnungslos, dass er weiss.

Von einem Buch, das nicht durch Ergebnisse der exakten Forschungen dem unmittelbaren Nutzen des Denkens zu dienen hat, erwarten wir immer das Wunder. Eine höhere Existenz. Unsere höhere Existenz, aufgezeichnet über den Knotenpunkten unseres Lebens, die durch weite Zwischenräume voneinander getrennt sind, zusammengehalten werden, gegeneinandergehalten werden. Wir erwarten, dass ihre Zusammenpressung ihnen ihre bestimmte Bedeutung gibt; Bedeutung, die sie untereinander enthüllen: jeder Lebensmoment drängt handelnd auf den andern ein.

Wir wissen: wir sind früher einmal erregt in den dunklen, eckigen Kellergängen unseres Hauses herumgestrichen; wir sind die Treppen prasselnd herauf ans Licht gerannt, wie ein Schiff, das breit auf die Helle des Meeres geht: ein Schiff und ein Meer, die wir erst viel später zu sehen bekommen werden. Wir sind viele Treppenwindungen atemlos einem Turm hinaufgestiegen, oben war es kleiner als sonst, auf dieser Spitze[47] wurde alles klein, das Licht kam von weiter her. Die Erde wurde gross. Wir lagen am Meer, die Zeit war langsamer geworden; könnte man mitten auf dem Meere sein, wo nichts mehr zu sehen war, dann war man sicher ein Stück von den Dingen, die nach unsichtbaren Einwirkungen, merkwürdig in der Form, manchmal an den Strand geworfen wurden. – Oder die staubigen winkeligen Bodenräume, in die graues, scharfes Licht aus seltenen Luken fällt, – von da auf die Dächer: über die ganze Stadt hinsteigen.

In jedem Menschen läuft immer die Sicherheit, dass dieses alles einmal sehr ernst mit unserm Leben verbunden sein kann. Es ist nicht nur, dass wir geboren wurden und aus der Höhle des Leibes in die Helle drangen; und dass das Geschlechtliche wieder in dunkle Höhlen dringt, oft schon künstlich den immensen dunklen Höhlenleib der Nacht schaffend. Aber wir wissen, dass man in Kellern verloren geht, dass man von Türmen abstürzt, auf dem Meer versinkt, auf Böden von Feuer erstickt wird. Das können Gefängnisse, Schlachten, Fluchten, Belagerungen sein. Geldabhängigkeit bricht über uns herein, Vermögen zerfliessen und werden gewonnen. Frauen weigern sich uns und werfen sich uns besinnungslos an den Hals. Menschen um uns werden erschossen, zerschlagen, oder sie zertrampeln die andern. Sicher ist, dieses Hinabsteigen, Hinaufklimmen, Hinausschwimmen, das uns immer unerklärlich gebannt hat, wird auf einmal zu Ungeheurem in unserm Leben, zu Tod oder Rettung, in dem Moment, da sich unsere Umwelt ändert. Der Raum auf dieser Erde, in dem wir uns zu bewegen haben, der Raum, in dem unsere Mitmenschen sich bewegen, die Drehung und Bewegung der Räume umeinander, die Kämpfe aus unseren Anstrengungen, Räume zu verschieben; die immer vergebene Hoffnung, Räume zu durchdringen, unser Zusammengeschmiedetwerden, unsere Rückstösse:[48] Körperlich wahrnehmbar wird uns dies alles nur durch unsere Beziehungen zum Licht. Das Licht und der Tag; das Fehlen des Lichts; das Feuer. Unser Denken ans Licht, unsere Vorstellungen vom Licht, unsere Einbildungen. Alle Akte unseres Willens sind auf der Raumwelt dieser Erde unlöslich verbunden mit dem Licht. Wie etwas aus dem Dunkel kommt und ins Dunkle zurückgeht, das Formwerden im Licht – hier sind die unmittelbarsten Zeichen zum Aufschluss von unserm Willen über andere und anderer Willen über uns.

Diese Zeichen suchen wir, ohne darauf zu achten, überall. Wir erwarten sie als Substanz jeden Buches, das Wesentliches von Menschen sagt.

Die Höhepunkte unseres Lebens, alle Momente, die uns ausser uns oder in uns versetzen, die grossen Aufstiege und Zusammenbrüche, treten nur als Vorgänge unter Menschen auf. (Wir können sie uns nie anders als durch Raumveränderungen vorstellen; und das heisst: dass auch jenes Ausser-Uns-Geraten nicht ein Losgelöstes von uns wird, sondern dass wir von der Dauer des Ichs wissen, da wir das Ich stets irgendwie als Raum wiedererkennen.) Vorgänge unter Menschen, Beziehungen zwischen Menschen: Willensäusserungen.

Es ist noch etwas anderes möglich, die Vorstellung von der vollkommenen Auflösung unseres Ichs. Wir können uns als Raum verneinen, wir können uns passiv machen, uns »entwollen«. Dann müsste die höchste Stufe dieses Vorganges, das Eintreten in ausser uns liegende Bewusstseinszustände sein; wir müssten uns in die Situationen von ganz aussermenschlichen Dingen einfühlen können – und dies oft gebrauchte Wort »einfühlen« zeigt sich hier, von menschlicher Art genommen, als ganz undeutlich. In Tiere, Bäume; in Unorganisches, Steine. – Aber das ist nicht die pantheistische Vorstellung von der berühmten Belebung der ganzen Natur (aller[49] geistigen Feiglinge), sondern etwas viel Präziseres. Es gälte dabei, die Zustandsform des Dinges zu erfassen: wie – nicht ein Baum–sondern der bestimmte, gewachsene Baum in der Welt für sich besteht. Oder das Steinsein eines Steines. Hindernisse gäbe es nicht; das müsste so weit gehen, ein bestimmter Stuhl, ein bestimmtes Glas in ihnen selbst sein zu können. (Als Kunst im ganzen Schrifttum aller Zeiten nur einmal durchaus grundsätzlich versucht, von Rilke, mit dem Gedicht »Die Säule«.) Diese ganze ungeheure Welt der passiven Strömung, des aufenthaltlosen, hindernislosen, willenlos gemachten Ichs, des bewusst unfrei gemachten Ichs ist das Gebiet des Lyrischen. Das Lyrische ist ja nicht auf die Versform des Gedichts beschränkt; es kann in einer Abhandlung, in einem Roman, in einem Bühnenwerk dasein (ein Schwächezeichen, das auch längst Tagesbrauch wurde). Aber sein Sinn ist immer: ein Ich, abhängig gemacht von aussermenschlichen Dingen; von Dingen, die der Wille nicht mehr regiert. Von Dingen. (Und das Lyrische des Liebesdichters liegt auch nie in den Willenslinien des Liebenden und der Geliebten, sondern in der Darstellung von Veränderungen, die in der »Natur« um sie vorzugehen scheinen, von der Erde bis zu Kleiderfalten, Haarduft, Glanz der Haut.)

Drüben die andere Welt der menschlichen Darstellung, das Gebiet der Willentlichmachung, der Eingrenzung, der Ein-Räumung des Ichs – da wo es sich um das Gegeneinander und Nebeneinander und Miteinander der Menschen handelt, – diese Welt des Erdenlebens müsste man, im letzten Gegensatz zur lyrischen, die politische nennen. So hat das Politische seinen grundsätzlichsten Sinn: Plan des Verhaltens der Menschen zueinander. Hier geht es um Menschen.

Aber das Politische in der Kunst kann sich nur in Taten[50] äussern. Das Werk, dessen Substanz es ist, muss ein Werk der Handlungen sein.

Der Routinier verwechselt Handlung mit Vorgang. Ebenso wie der Geschäftige Arbeit mit Tätigkeit verwechselt. Aber Handeln ist etwas Unzweideutiges, eine Veränderung, die durch den Willen erwirkt wird. Die wirkliche Dichtung hat immer nur mit dem menschlichen Willen zu tun, dessen äusseren Anschein sie gibt. (Sie kann auch vollkommen da sein, indem sie bewusst den Willen scheinbar fehlen lässt, das heisst in Wahrheit ihn verschoben auf Gebiete des Ausser-Ich zeigt. Hauptmanns »Emanuel Quint«.)

Langeweile ist ein sehr bemerkenswertes Phänomen: wenn ein Buch uns seitenlang in sorgfältigem Fleiss Gewitter, Meereswogen, Waldrauschen, modernes und älteres Alpenglühen zeigt, dann merken wir ganz genau, dass wir es mit Schriftstellertätigkeit zu tun haben, mit Beschreibertätigkeit. Dichtung hat nichts mit Beschreibung zu schaffen. Wie wahr das ist: Die Kosmogonien des Altertums können die Natur nur in Personifikationen darstellen. Die Naturschilderer der neuen Zeit anthropomorphisieren die Natur; bei ihnen »bandelt« die Natur, die Natur »bedrängt« den Menschen, »wehrt sich« gegen den Menschen, der Wald »wacht auf«, der Turm »springt in die Höhe« – grobschlächtige Vorstellungen, die aber auf demselben Plan stehen mit Intimitäten des Solipsismus: ein Romanheld sieht in einem Florentiner Flügel das Knie seiner Geliebten. – Dies sind Auswege, Verschwommenheiten, bei denen nur das Temperament des Autors – als des in so einem Fall einzigen wirklichen Handelnden – den psychophysischen Dilettantismus ein wenig kaschieren kann. Man nennt diese Vorstellungsart mit Recht auch nicht dichterisch; es gibt eine sehr gute Bezeichnung für sie, die das Surrogative ausdrückt: »poetisch«.[51]

Der Dichter hat es nur mit dem Handeln des Menschen zu tun. Die Natur ist die grosse, vorhandene Passivität der Welt, das Material, in dem die Subjekte des Dichters arbeiten, das sie kneten, schneiden, verschieben, umwandeln: verändern. Ändern. Der menschliche Wille geht auf Änderung der Welt. Jeder menschliche Wille. So müssen die Willenslinien immer zusammentreffen. Ihr Objekt, die Manifestation der Welt, die geändert werden soll, ist ein Stück Raum, dessen Lage man wechseln will. Und die Politik des Staatslebens ist nur ein Sonderfall aus dem ungeheuren Gebiet der Willensäusserungen in der Welt: des Politischen.

Die Bühnendichtung zeigt den Weg der Willensduelle an einem Ding, das seinen Besitzer wechselt. Der Besitzwechsel ist immer ein Ausdruck für die Übermacht des einen, aber der Gegenstand hat auch eine Beziehung zu dem Menschen, unter denen er seine Lage ändert. Ein ganz klarer Fall, in dem ein Requisit zum Symbol wird, ist Goldonis »Fächer«. Indes der Bühnenroutinier und der Dilettant belässt alle Dingobjekte, die den Knotungspunkt der menschlichen Willen veranschaulichen sollen – Kronen, Schmuck, Dolch, Geld – bei ihrer rohen Materialwirkung als Requisit. Am deutlichsten in den häufigen Dilettantenschlüssen mit Gift; das Gift, ein blosses Objekt des menschlichen Willens, ist da nicht das »politische« also veranschaulichende Ding, sondern etwas angeblich real Wirkendes; diese Zumutung ist immer so lächerlich. Dagegen der Dichter lässt selbst das am stärksten materialmässig Wirkende, das Geld, zur Veranschaulichung des Willenskampfes »politisch« werden; Molières »Geizhals«. Das wirkliche Können des Dichters formt an der Sublimierung der Dingsymbole: Shakespeare gibt das Ringen zweier Wesen an Macbeths Monolog von einem Dolch, der nicht einmal existiert. Sophokles, wohl in der Bühnenwirkung am stärksten, verleiht dem Objektsymbol[52] des Kampfes die allerkühnste und beziehungsvollste Einfachheit: In der »Antigone« ein Leichnam!

Aber das Raumsymbol der erzählenden Dichtung und des Romans ist anderer Art. Es ist unmittelbar. Es ist jene Ausmessung der Umgebung, die das handelnde Subjekt durch sein Wirken selbst wählt und begrenzt. Im Drama gehört ja die unmittelbare räumliche Umgebung des Handelnden nicht wahrhaft zum eigentlichen Wesen der Handlung, der Wald, die Strasse, das Zimmer der Bühne. Im Roman ist aber der eigentliche Bewegungsraum des Handelnden unendlich sinnvoll. Die dunkle Grotte, in der Odysseus die Schatten der Unterwelt beschwört; in die er hinabsteigt, aus der er glückselig wieder ans Tageslicht heraufkommt (er würde gewiss eine unabsehbare Gefühlslücke sein, wenn ihm hier nicht seine Mutter er schiene; keineswegs aus sentimentalen oder sogenannten psychoanalytischen Gründen). Oder der unermesslich reiche und lichte Phäakenpalast. Die felsige Insel Robinsons, die Bergspitze, auf der er Signalfeuer anzündet und seine Höhle. Lederstrumpfs Urwald und der breite Mississippi. Bis zum Roman der populärsten Wirkung: das unterirdische Gefängnis des Grafen von Monte Christo und seine strahlende Schatzkammer.

Dies alles sind nicht Milieuangelegenheiten oder etwa soziologischer Natur; noch weniger dekorative Dinge, Kulissen. Sondern es sind die plastischen Darstellungen des Umfangs, in dem der Wille des Handelnden sich erproben muss. Der Sinn und die Kraft des epischen Raumsymbols gehen bis zu Dostojewski, der doch den epischen Gang der Erzählung scheinbar kompliziert, indem er ihn aus Gesprächen und Betrachtungen entstehen lässt. In den »Brüdern Karamasow« das Kloster des Mönchs Sossima, das erst voller Heiligkeit und Wundertum ist und später ein Ort des teuflischsten Leichengestanks, dies[53] ist eine Versinnlichung von mächtigster Einfachheit für den Umfang – und die vielfache Art – der Willenskatastrophen bei den Karamasows. Es ist typisch, dass die schöpfungslose Literatur der Unfähigen, Verirrten und Unsicheren (die das Energiewesen Dostojewskis nicht verstanden und das technische Gewebe von aussen nachzumachen suchten), beispielsweise die sogenannte psychologische Literatur, nie ein aktives Raumsymbol hervorgebracht hat; ihre Szenen spielen sich allzuoft in Restaurants und Cafés ab, die stets als »gleichgültig« für den Handelnden bezeichnet werden. Dies bedeutet, dass die Orte solcher Schilderungen nicht auf der Ausdehnung von Willensverknotungen liegen. Sie sind nicht Raum geworden: sie sind nicht geschaffen.

Die Konzentrierung der Handlung, die die Schreibart jeder wirklichen erzählenden Dichtung auszeichnet, ist erst eine Folge der Erschaffung eines Raumes für die Handlung. Innerhalb des gedichteten Raumes ist jeder Vorgang körperlich und erfüllt sein eigenes Raumvolumen. Aber jeder dieser Körperlichkeiten ist ein Sammelplatz von Energien, die immerfort einen Austausch anstreben: Wahrnehmung des Lesers von der »Fülle der Handlung«. Bei den höchsten Werken der, im Sinne der Aktivität, politischen Dichtung, jenen, die gar nichts mehr von Deskription haben, sondern alle Körperlichkeit zur Darstellung von Willensintensität machen: Wahrnehmung des Lesers von der »Dichtigkeit des Ausdrucks«. Die Odyssee ist ein Abenteuerroman, der Monte Christo des alten Dumas ist es auch. Zwischen diesen ungeheuren Abständen von Dichtung und Unterhaltung stehen Werke Daniel Defoes; Dostojewskis Raskolnikow und die Karamasows; Caleb Williams, der anarchistische Rokoko-Proletarier-Roman des Engländers William Godwin; von Cervantes der Don Quixote, Coopers Lederstrumpf. Ganz ungleichartige Bücher. Gemeinsam haben[54] diese Werke die Aktivität der Vorgänge, die Handlung. Oder, vom Grundeindruck des Lesers aus gesprochen: die Spannung.

Von allen Wirkungen des Romans scheint die Spannung die wertloseste zu sein. Der Routinier, der über nichts mehr verfügt, kann immer noch Spannung machen. Die Spannung hält die alten Räuber-, Ritter-und Geisterbücher, die modernen Dienstmädchenromane, die populären Kriminalgeschichten zusammen. Die Spannung scheint am wenigsten vom Leser zu fordern und am wenigsten vom Autor. Aber in Werken von so reiner Kraft, wie denen Defoes und Dostojewskis herrscht ungeheuerste Spannung. Und wenn man die Odyssee in einem einheitlichen Sinn vollkommen überschaut, als der Erklärung nicht bedürftiges Erzählungswerk – wie es erst heute wieder die Tatsache von Rudolf Alexander Schröders Übersetzung fordern darf – so steht man überall vor einer Zusammenfassung von Ereignissen, die als höchste Spannung wirkt. In allen diesen Fällen ist Spannung nicht etwas Verschiedenes, sondern überall derselbe Vorgang im Leser: stärkste Erwartung einer Folge, deren Kommen man zugleich sicher voraussieht. In allen Romanen der Aktivität, den reinen Dichtungen und den bunten Groschenheftchen, ist die Spannung gleicher Art. Denn Spannung ist überall dasselbe Gebilde; ein Gebilde, das aus der Einheitlichkeit eines Ausdruckmittels und eines Sachinhaltes besteht. Der Inhalt der Spannung ist stets eine Elementarerschütterung des menschlichen Willens; ihr Ausdrucksmittel ist die Zusammenfassung in unmittelbar ausgesprochenen Resultaten. In unmittelbaren Feststellungen wird ausgedrückt, wie Odysseus, nach dem Schiffbruch an den Mast geklammert, sich rettet, wie Robinson auf seiner Insel menschliche Fussspuren findet, wie der Mörder Raskolnikow vor dem Untersuchungsrichter steht. Diese Feststellungen können sehr ausgedehnt sein; sie sind es nur, um den Raum für ein Subjekt[55] zu schaffen: um eine Gestalt vollkommen zu einer Figur nur aus ihren eigenen Willensdimensionen zu machen. Sie sind nie deskriptiv, das bedeutet, sie geben nie einer Gestalt die Möglichkeit, ihre Umrisse aufzulösen und in der Welt zu verströmen. Das Ausdrucksmittel durch das Resultat wirkt auf die Gestalt kondensierend, zu deutsch: dichtend. Das Ausdrucksmittel stellt das Mass des in der Gestalt angesammelten Willens dar. Es stellt das dar am Inhalt der Elementarerschütterung des Willens. Das menschliche Elementarereignis für die Grunderschütterung des Willens gibt dem Willen erst die Möglichkeit zu wirken. Odysseus, der als Bettler verkleidet sein muss, um gegen die Übermacht der Feinde sich in sein Haus zu schleichen; der Graf von Monte Christo, der sich statt eines toten Gefangenen vom Turm ins Meer werfen lässt, um zu entfliehen: hier sind Katastrophen an der äussersten Grenze des menschlichen Willens. Solche Katastrophen können gar nicht anders als durch Feststellung von Tatsachen, also der Form des Willentlichen, ausgedrückt sein. Wären sie es anders, wären sie in die Erklärung und Auseinandersetzung der Deskription – also des Abhängigmachens von der Umwelt – eingebettet, so hätte man nicht Höhepunkte, sondern Endpunkte. Abschlüsse. Das widerspricht dem ganzen Energiematerial solcher Vorgänge. Es ist eine Energieansammlung, die nicht in sich selbst zur Ruhe kommen kann; sie ist auch nur möglich durch andere Energieaufspeicherungen ausser ihr. Intensität fordert Aktivität. Im Wesen der Spannung taucht so von einer ganz anderen Seite der Begriff des Politischen wieder auf.

Die Grunderschütterungen des Willens spielen stets um unseren Tod herum; sie stehen unserem Denken sehr nahe. Es steht auch dem Autor sehr nahe, sich ihrer zu bedienen. Daher ist die Spannung wirklich die niedrigste Wirkung des[56] Erzählers; nämlich die allgemeinste. Aber die Tatsache der Spannung selbst sagt nichts über den Wert des Werkes, in dem sie wirkt. Fast umgekehrt: die an sich wertlose, das heisst ausserhalb eines Masses stehende Spannung ist selbst erst das Mass, der Wagebalken für unsere Entscheidung über den Wert des Werks. Denn wir nehmen unfehlbar wahr, ob die Spannung nur eine Folge von Vorgängen ist, ein lineares Gebilde, das bloss durch flächig für sich selbst bestehende Ereignissummen hindurchgleitet. Oder ob sie die Rhytmusarchitektur ist, die zusammenschiesst aus den Energiestrahlen der Bewegungskämpfe von geschaffenen Räumen des Willens. Die Erscheinung einer Schöpfung.

Die Literatur, die von Zeitgedanken abhängt, die Literatur geht immer wieder im zeitlichen Wechsel zweier entgegengesetzten Bahnen. Entweder der sogenannten Phantasie oder der sogenannten Tiefe. Die Literaturphantasie ist eine Darstellungsart, die in der Fläche bleibt; sie vervielfacht ihre Vorgänge; sie erfindet nicht, sondern erdenkt. Sie zeigt nicht Folgen, sondern Konsequenzen. Sie zeigt Willenshandlungen ohne Ausmass des Willens. Sie gibt Gestalten ohne ihren Raum. Der Gegensatz, die Literaturtiefe, gibt einen Raum ohne seine Gestalten. Das eine ist eine zeitliche Überschätzung des Denkens, das andere eine Überschätzung der Anschauung. Die Literaturphantasie ist logisch, die Literaturtiefe psychologisch. Beide, unschöpferisch, hängen in ihrer Gültigkeit unablässig vom Zeitmoment ihrer Entstehung ab. Hauptvertreter: der alte Dumas, die Phantasie. Flaubert, die Tiefe. Wir stehen gegenwärtig noch in der Mode der Anschaulichkeit; also hohe Schätzung von Flaubert.

Aber die grossen Schöpfungen, es sind wenige, die über Jahrhunderte zusammengehören, sind ganz anderer Natur. Sie gehören nicht zur Literatur. Das ist eine bestimmte Qualität[57] (doch auch nicht einer jener oft verbittert hingeredet mürrischen Vorwürfe gegen die Literatur). Die Literatur ist immer von dem Material der Logik oder der Psychologie. Das sind die Werke der Schöpfung nicht. Es ist wiederum gerecht, dass die Literatur Verdacht gegen die »Schöpfungen« hat, sie innerlich nicht zu sich rechnet, und wenn sie sie schon verbreiten muss, dann gern »bearbeitet«, das heisst, sie möglichst nach der gerade herrschenden Denkform maskiert. Die Literatur ist für sich selbst da. Die Schöpfung nicht.

Vergessen wir nie: Nur den rohen Wortklang gemeinsam mit der Literatur hat der Literat. Kein höheres Wesen in der menschlichen Gemeinschaft als der Literat! Der Literat ist für uns alle da; tausendmal opfert er sich in die aufreizende und vergängliche Stunde. Er wagt es, für uns das Wort zu sprechen, auf das Glück und die tolle Gefahr hin, dass es das Wort des Tages ist. Er stürmt für uns vor; er ist der Führer, und um den Preis, dass wir ein Ohr, ein Herzzucken, eine schwingende Masse sind, nimmt er selbst das ewige Vergessen von morgen auf sich. Zuerst unter allen Dingen der Welt ist der Dichter Literat. Zuerst ist der Schöpfer Literat.

Der Literat spricht unser Denken unmittelbar aus, als ein Feuertransparent vor unserm Leben. Dagegen die »Literatur« ist nur die ateliergeheimnistuerische Polemik über unser Denken.

Die Schöpfung ist ein Krater für die Aufrüttelung durch den Geist. Diese mächtigen politischen Romane dienen der Darstellung einer geistigen Idee. Schärfer begrenzt: der Idee des Geistigen. Die Odyssee, Robinson Crusoe, Gulliver, Tausend und eine Nacht, Karamasow sind da, um die Erschütterung des menschlichen Willens durch ein Geschehen über den Körpern, das unabhängig von allem Material der Welt ist, körperlich werden zu lassen. Diese Dichtungen finden[58] ihren Ausdruck nie in Auseinandersetzungen und Erklärungen, sondern in Feststellungen und Resultaten. Darum, weil sie von einem Absoluten wissen. Was diese Werke über Jahrhunderte aneinander bindet, ist ihre selbstverständliche Voraussetzung: ein freier Wille des Menschen, der durch alle seine Handlungen vor einem unendlich übergeordneten, aktiven Sinn ausserhalb der Vorstellungsmöglichkeit Rechenschaft ablegt. Die Dokumentation des absoluten Geistigen erzwingt eine unmittelbare Aneinanderdrängung der Handlungen; jeder Ruhepunkt durch die Beschreibung (Bequemlichkeit der Deskription) wäre auch nur vor der Tatsache Gottes eine furchtbare Leere, es wäre eine Tatenlosigkeit auf der Welt, Verleugnung, ja Verstellung. Auf der Welt lebt man, um in jeder Minute seine Herkunft vom Geist in Taten darzustellen; und das Material der Welt ist dazu da, um unsern Willen zu zwingen, im Durchbrechen des Raumwiderstandes, unter Flammenkatastrophen, jeden Augenblick des Lebens immer wieder von neuem als den ersten Tag unserer Geburt vom Geist aufscheinen zu lassen. Der Aktionsroman gibt das Leben der Menschen in den Katastrophen der Gewissheit vom Geist. Seine Kunst ist nie ein für sich laufender Kreis, nie etwa die Nutzung des persönlichen Privilegs einer Offenbarung. Nie ein Luxus. Nie wertvoll. Sondern selbst wertend. Sie ist dazu da, um die menschlichen Handlungen auf ihre Ausfüllung der Willensmöglichkeit zu werten. (Und daher kommt das starke Mutgefühl, das den Leser des Aktionsromans immer umgibt.) Die Dokumentation des Geistigen erzwingt die Lückenlosigkeit der Erscheinungen des Willens. Die Konzentration der Handlung. Und erst die unerfüllten (Kultur-) Nachahmer meinen gewöhnlich, Kunst bestehe abseits von der Mitteilung des Menschlichen, und Konzentration sei ein Vorgang aus sich selbst. Dieser politische Roman der Dichter stellt, als wertendes,[59] undeterministisches Werk, immer ungeheuerliche Forderungen auf. Dass diese Forderungen nicht leer phantastisch erscheinen, ist wieder erst durch die Intensitität der Willenstätigkeit möglich, innerhalb deren diese Forderungen als Willensangelegenheiten verflochten sind. Dostojewski fordert Ungeheures vom menschlichen Herzen, der Robinson vom moralischen Bewusstsein, Gulliver vom gesellschaftlichen, Godwins Caleb vom rechtlichen; die Odyssee von der menschlichen Treue. Cervantes fordert Utopisches von der Verwirklichungsmacht der menschlichen Vorstellungskraft, und er ist auch tatsächlich der erste Romantiker, insofern er innerhalb seines eigenen Werkes Skeptiker an seinen eigenen Forderungen ist: Literatur taucht hier auf.

Die Literatur vertritt immer ihre Gesellschaft. Die Schöpfung vertritt nichts. Ein Ventil vertritt nicht seine Dampfmaschine. Die Schöpfung ist ein Ventil dieser Welt für die Aktivität des Geistes. Das Geistige geht unmittelbar durch sie hindurch, und darum ist sie unmittelbar aktiv. Die Literatur beschreibt die Katastrophe; die Schöpfung ist ein Teil der Katastrophe selbst. Die Literatur schildert bestenfalls die Aufrüttelung, die Schöpfung macht die Aufrüttelung mit.

Die Schöpfung ist unabhängig von ihrer Gesellschaft und von jeder Gesellschaft. Sie hat mit Kultur nichts zu schaffen (die Literatur alles). Denn die Gesellschaft ist ihr nur ein bestimmtes Trägheitssymptom des menschlichen Willens, wie ihr auch jedes andere Material sich als Trägheitssymptom darstellt. Die Schöpfung ist dazu da, im Brennen des Geistes die Trägheit zu vernichten. Die Intensität der Schöpfung ist wirklich der Gesellschaft feindlich; aber das ist so zu verstehen, dass sie eine unendlich viel grössere Rolle für die Gesellschaft spielt, als die Gesellschaft für sie. Gesellschaftsdichtung oder soziologische Dichtung gibt es ebensowenig wie logische oder[60] psychologische. Nicht etwa nur, weil dies ein Übergang in die Wissenschaften wäre; diese Antwort zeigt allein das äussere Bild des wahren Grundes. Sondern weil der Geist eine andere Welt ist als das Material. Das Licht von der Sonne kann zwar durch ein Prisma gebrochen werden, aber nur das Licht ändert die Umgebung des Prismas, und das Prisma wirkt nicht auf die lichthervorbringende Sonne zurück.

Die Schöpfung des politischen Romans flammt durch das Material der Gesellschaft hindurch, und bleibt Geistiges; die Gesellschaft und die Umwelt ändert sich, wird von einer Aufwühlung in die andere getrieben. Der Sinn aller Katastrophen im Aktionsroman ist: Den Menschen immer wieder, durch Zerstörung aller Trägheitslieblichkeit der Umwelt, unmittelbar in die fürchterliche Helligkeit des Geistes zu stellen; von der er stammt. Den menschlichen Willen immer von neuem als auf dieser Welt sichtbar fortsetzenden Strahl des Geistigen zu weisen.

Die Substanz des aktiven Romans, der wahre Stoff und Vorwurf seiner Dichtung: sind jene Urelemente des Fühlens zwischen dem Feuer und der Nacht, der Helle und dem Tod, die wir seit unserer Kindheit kennen, und die uns stets an unsere geistige Herkunft erinnern. An denen der menschliche Wille sich zu verkörpern hat. Alles, was unsere räumliche Existenz ändert. Man weiss erst, wie sicher die Aktivität des Geistigen, unabhängig von den Gelegenheitsänderungen des Materialen ist, wenn man feststellt, dass schon die rohe, nur erwähnende Aufzeichnung der Elementarsituationen des menschlichen Lebens auf uns wirkt, bis hinein selbst in die dichtungslose, weitmaschigste Verbreitungsliteratur. Die Spannung ist eine der Erscheinungsformen des Geistigen, so wie die Farbe eine Erscheinungsform des Lichts ist, und die Farbe wirkt auf uns bestimmend auch noch aus einem billigen Öldruckbild.[61]

Diese immerwährende katastrophenrührende Aktivität des Geistigen: das Politische macht die Dichtung des Aktionsromans zu einem revolutionären Werk. Die Forderungen, die er stellt; seine Arbeit, die herrschend unberührte Änderung, Umschiebung, Knetung – Umstürzung – des Materialen, der Gesellschaft, machen ihn zur Stimme des Aufstandes. Er lehrt nicht, er wirkt durch unmittelbare Wirkung. Er hat keine »Tendenz«, er hat nur die eine Richtung aufs Geistige. Er analysiert nicht, er stellt fest. Er kritisiert nicht, er zerstört direkt. Er zerstört immer wieder mit seinen Katastrophen die angeebbten Gewohnheiten, die den Menschen zu einem Wesen seiner Umgebung verschwemmen. Er zerstört: Um den menschlichen Willen für den Geist frei zu machen.

Quelle:
Ludwig Rubiner: Der Mensch in der Mitte, Potsdam 21920, S. 46-62.
Lizenz:

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