II.

[129] Am nächsten Morgen hängte ich mein Gewehr über die Schulter, pfiff meinem Hunde und ging in den Wald. Denn es war einer der Tage, an welchen Klaubholz gesammelt wurde, und da hieß es, ein wachsames Auge haben. Kannten doch die Leute, so diese Vergünstigung genossen, keine Schonung[129] dessen, was, wie sie meinten, eben der freien Natur angehörte. Sie zertraten aufs rücksichtsloseste die jungen Kulturpflanzen, brachen mit ihren Stangen, daran starke Haken befestigt waren, samt den dürren Zweigen auch gesunde nieder und legten nicht selten feine Schlingen ins Buschwerk, auf daß sich Hühner und junge Hasen verfängen. So durchstreifte ich denn jenen Teil des Reviers, der sich mehr gegen die Niederung hinzog; auf dem höher gelegenen, wo Rotwild wechselte, hatte es weniger Gefahr, denn die meisten vermieden in der Regel den beschwerlichen Aufstieg; auch waltete dort seines Amtes der oben wohnende Heger.

Es ging diesmal sehr lebhaft zu, da man die erste schöne Zeit benützte, um sich für länger hinaus zu versorgen; es wimmelte nur so von Weibern und halbwüchsigen Kindern. Indessen war die Sonne immer höher gestiegen, und der Forst begann allmählich wieder zu vereinsamen, als ich, bereits an die Heimkehr denkend, die Mutter Kratochwil gewahrte, wie sie eine ziemlich steile Lehne mühsam herunterhumpelte. Das ausgemergelte, hinfällige Weib hatte sich eine ungeheuere Last von Reisig und dürrem Laub auf den Rücken gebürdet; sie keuchte, und der Schweiß rann über ihr knochiges, bläulichrotes Gesicht, während ein paar Schritte hinter ihr die Tochter ganz frei und unbelastet hinabtänzelte, nur die dünne Brechstange gleichsam zum Spiel nach sich schleifend. Seht die Zuchthausprinzessin, dachte ich, indes mir die Alte mit heiserer Stimme einen demütigen Gruß zurief, seht die Troglodytin, sie läßt die Mutter sich zu Tode schleppen, ohne auch nur ein Zweiglein aufzunehmen! Dennoch konnte ich nicht umhin, der kräftig schlanken Gestalt nachzublicken, wie sie jetzt auf ebenem Boden trotz ihrer Lumpen wirklich wie eine Prinzessin einherschritt und sich dabei anmutig in den Hüften wiegte. Sie war ohne Gruß und Seitenblick an mir vorübergegangen; aber bei einer Pfadbiegung angelangt, blieb sie plötzlich stehen und blickte rasch mit einem flüchtigen Lächeln nach mir zurück. Ich ärgerte[130] mich, daß sie nun bemerkt hatte, wie ich ihr nachstaunte, und ging geraden Weges nach Hause, wo ich aber von dieser neuerlichen Begegnung schwieg, um den Förster nicht wieder in Harnisch zu bringen.

Tags darauf hatte ich in der Baumschule zu tun, die, dem Waldrande schon ziemlich nahe, in einer anmutigen windgeschützten Schlucht lag. Als ich mich der Umfriedung näherte, sah ich unweit davon das Mädchen auf einem bemoosten Steine sitzen, als erwarte sie jemanden. Sie hatte im Schoße eine Menge von Vergißmeinnichten liegen, die sie am Rande eines hinter ihr vorüberrieselnden Baches gepflückt haben mochte, und auf welche sie jetzt errötend niederblickte. Eine eigentümliche Empfindung durchzuckte mich; aber ich ging, ohne sie anzusehen, an ihr vorüber und trat in die Baumschule. Während ich dort musterte und hantierte, blickte ich unwillkürlich zwischen den Latten durch und gewahrte, wie sie jetzt mit ungeschickten Fingern bemüht war, die kleinen blauen Blumen zum Strauß zu einen. Mir wurde immer seltsamer und peinlicher zu Mut, und um nicht wieder an ihr vorbeizukommen, zwängte ich mich nach der anderen Seite hin durch den an mehreren Stellen brüchig gewordenen Zaun und trachtete das Dickicht zu gewinnen, indem ich in einen schmalen Pfad einbog. Ich war noch nicht lange gegangen, als es in der Nähe raschelte und mein Hund leicht anschlug. Ich dachte, es wäre ein Reh, statt dessen aber brach das Mädchen hervor und huschte, während sie den Strauß fallen ließ, dicht an mir vorbei, sofort jenseits wieder verschwindend. Ich ließ die plump aussehende Gabe liegen und ging meines Weges. Nach einger Zeit erschien sie wieder – und bald darauf ein drittes Mal. Diese zudringliche Verfolgung begann mich zu ärgern; rasch entschlossen, bog ich sofort nach rechts ab und schritt quer durchs Holz auf der kürzesten Linie dem Forsthause zu. Als ich mich der Schwelle näherte, hörte ich in der Entfernung hinter mir ein kurzes, helles Lachen erklingen, wie das einer Spottdrossel.[131]

Am nächsten Tage trat sie mich wieder an – und auch an dem nächstfolgenden; sie mußte offenbar irgendwo auf der Lauer liegen, um zu erforschen, welche Richtung ich nahm, wenn ich das Haus verließ, sonst hätte sie nicht stets neben mir her sein können. Als ich am dritten Tage zurückkehrte, sagte der Förster: ›Sie, Pernett, ist Ihnen nicht die junge Kratochwil begegnet? Ich habe die verdammte Dirne heute früh am Hause vorbeischleichen sehen wie eine Katze. Sie treibt sich gewiß im Revier herum.‹

Ich weiß nicht, was mich abhielt, die volle Wahrheit zu sagen, und erwiderte bloß, daß ich das Mädchen allerdings von weitem wahrgenommen.

›Sie hätten sie anrufen und abschaffen sollen. Ich bitte mir aus, daß es das nächste Mal sofort geschieht. Und wenn sie Ihnen keine Folge leistet, so hetzen Sie den Hund auf sie – oder brennen ihr eins hinauf!‹

›Ja, wenn das nur so ginge!‹ erwiderte ich mit gezwungenem Lachen.

›Leider geht's nicht. Und das weiß auch das Gesindel und nimmt sich daher alles und jedes heraus. Diese Kanaille aber darf um keinen Preis geduldet werden. Drohen Sie nur, daß man den Eltern das Klaubrecht entzieht, das wird schon wirken.‹

Ich fühlte mich während dieser Unterredung um so befangener, als ich mir bewußt war, bei der ersten Frage meines Vorgesetzten errötet zu sein. Aber er hatte recht: der Sache mußte ein Ende gemacht werden. Ich nahm mir also vor, das Mädchen bei der ersten Wiederbegegnung scharf anzulassen.

Am nächsten Morgen war trübes, regnerisches Wetter eingefallen, und ich dachte daher, daß sie sich heute wohl nicht zeigen würde; aber es dauerte nicht lange, so sah ich sie im nassen Gestrüpp einer abgeholzten Lehne auftauchen.

›He! du!‹ rief ich sie an.[132]

Sie stand still und blickte mir, unter dem triefenden Kopftuche über und über erglühend, entgegen.

›Was streichst du denn da im Wald herum?‹ fuhr ich barsch fort, indem ich auf sie zutrat.

Sie schien eine andere Sprache erwartet zu haben, denn ihr Gesicht verfinsterte sich und ihre Augen nahmen einen bösen Ausdruck an. ›Nun,‹ fragte sie mit rauher Stimme, ›darf ich's vielleicht nicht?‹

›Nein!‹

›Warum nicht? In den Wald kann jeder gehen.‹

›Meinst du? Im Revier darf sich niemand aufhalten – und du am wenigsten.‹

›Wer wird mich hindern?‹

›Ich.‹

›Ihr? Geht!‹ Sie sah mich dabei mit zusammengezogenen Brauen verächtlich – und doch mit ungläubiger Zärtlichkeit an.

Ich fühlte, wie mir dieser Blick ins Innere drang; dennoch nahm ich eine gleichgültige Miene an. ›Was mich betrifft, so sollt' es mich wenig kümmern, ob du da bist oder nicht; du wirst die Bäume nicht forttragen. Aber der Förster duldet's nicht und hat mir befohlen, dich abzuschaffen.‹

›Und wie wollt Ihr das anfangen?‹ fragte sie höhnisch.

Mein Stop hatte sich mittlerweile zwischen uns beide gestellt und fing jetzt an, sie vorsichtig zu beschnuppern.

›Wollt Ihr mir vielleicht gar mit dem Hund zu Leibe?‹ fuhr sie lachend fort. ›Der würd' Euch nicht gehorchen.‹ Sie hatte bei diesen Worten einen Brocken schwarzen Brotes aus der Tasche gezogen, nach welchem Stop, gefräßig wie alle Jagdhunde, gierig schnappte und dann, nach mehr verlangend, wedelnd zu ihr emporsah. ›Seht Ihr! Er ist klüger, als sein Herr; er nimmt, was man ihm gibt.‹

Ihre Unverschämtheit verdroß und empörte mich jetzt wirklich. ›Weißt du,‹ sagte ich, ›ich werde mich mit dir in kein Hinund[133] Herreden einlassen, und erkläre dir nur, daß ich dich nicht mehr hier treffen will. Gewalt kann ich allerdings nicht anwenden, aber es gibt noch andere Mittel, dir den Kopf zurechtzusetzen. Fürs erste dürfen deine Eltern nicht mehr Holz sammeln, wenn du mir noch einmal in den Weg kommst. Das merk' dir!‹ Damit ließ ich sie, dem Hunde pfeifend, kurzweg im Gestrüpp stehen. Ich empfand deutlich, wie sie mir mit zornig funkelnden Augen nachblickte, und nach einer Weile vernahm ich ein wildes, weithin schallendes Hohngelächter.

Aber meine Worte, sowie mein ganzes Benehmen schienen doch die beabsichtigte Wirkung nicht verfehlt zu haben; denn das zudringliche Geschöpf blieb von diesem Tag an dem Walde fern; wenigstens bekam ich es nicht zu Gesicht. Aber seltsam: obgleich ich mit dem Erfolg zufrieden sein mußte und es auch wirklich war, so fehlte mir doch etwas bei meinen Gängen. Es war mir, als könnte ich noch immer nicht daran glauben, daß sie meinem Befehl gefolgt sei, und so oft ich es irgendwo in den Zweigen rascheln hörte, glaubte ich auch ihre Gestalt hervorbrechen zu sehen, gewissermaßen enttäuscht, wenn ich nun in der Tat irgend ein Getier erblickte.

Inzwischen war es vollends Sommer geworden und draußen auf den weitgedehnten, sonnenbeglänzten Feldern begann allmählich das Korn zu reifen. Um diese Zeit hatte ich mich einmal in der Frühe zu dem Heger hinauf begeben und mit ihm den oberen Teil des Reviers begangen; als ich mich zum Abstieg anschickte, war es bereits nahe an Mittag und die Hitze, schon am Morgen höchst empfindlich, hatte sich inzwischen bis zum Unerträglichen gesteigert. Aus dem Nadelholz rings herum drang eine betäubende Glut und schien jeden Laut zu ersticken; nicht einmal das Hämmern des Spechtes klang durch die Stille. Ich hatte meinen Rock ausgezogen und lechzte wie mein Hund, der mit heraushängender Zunge dicht hinter mir herschritt. Aber alle Bäche und Wasserrisse waren eingetrocknet, und die kurze Wegstunde, die ich noch bis zum Forsthause zurückzulegen[134] hatte, schien mir gerade Zeit genug, um zu verdursten. Da fiel mir ein, daß ich mich in der Nähe eines Erdbruches befinden müsse, woselbst ich im vorigen Sommer während der größten Dürre eine Quelle angetroffen hatte, die mühselig zwischen Moos und Baumwurzeln hervorsickerte. Ihr spärliches Wassergeriesel sammelte sich in einem kleinen, von Zeit zu Zeit überfließenden Tümpel, wodurch der Ort selbst beständig feucht gehalten und der Wuchs hoher Ulmen begünstigt wurde, die in der Runde kühle, düstere Schatten verbreiteten. Ich trachtete sofort, die kürzeste Richtung zu gewinnen, indem ich mich ohne weiteres durchs Dickicht schlug. Bald empfand ich auch, wie mir ein erquickender Hauch entgegenwehte; jetzt vernahm ich schon deutlich, wie es in der Tiefe rieselte und plätscherte. Noch ein paar Schritte – und unter mir lag der klare, umschattete Tümpel. Aber gleichzeitig benahm es mir den Atem, und ich mußte mich taumelnd am nächsten Ast festhalten. Denn dem kleinen Bassin, an dessen Rand sich weibliche Kleidungsstücke verstreut zeigten, entstieg eben mit blinkendem Leibe das Mädchen. Stolp war vorausgeeilt; sie schrak zusammen und wandte mir das Antlitz zu. Ihre erste Regung war, sich in instinktmäßiger Scham die Hände vor die Augen zu schlagen; sofort aber zuckte es eigentümlich um ihren Mund, und indem sie die erhobenen Arme sinken ließ, nahm sie die bekannte Venusstellung an, die sie nie im Leben vor Augen gehabt. Ich wendete mich ab und floh den Pfad zurück, den ich mir gebrochen. Wie ein Trunkener taumelte ich vorwärts; das Herz schlug mir bis an den Hals hinauf; Hitze und Trockenheit in der Kehle drohten mich zu ersticken, während mich mein Hund, der sich inzwischen satt getrunken, mit noch triefender Schnauze lustig umsprang.

Wie ich damals nach Hause gekommen, weiß ich heute nicht mehr; ich kann nur sagen, daß ich das Bild nicht vor den Augen wegbrachte, daß mich marternde Sehnsucht verzehrte, daß ich mit dem Entschlusse kämpfte, das Mädchen aufzusuchen – und[135] was derlei Ausgeburten einer erhitzten Phantasie mehr waren. Vernunft und Ehrgefühl halfen mir freilich über all diese Erschütterungen hinweg; aber mir war und blieb in den nächsten Tagen elend zumut. Ich konnte nicht essen, nicht schlafen und schritt im Walde wie ein Schatten umher.

So mochte fast eine Woche vergangen sein, und ich mußte wieder einmal nach der Baumschule sehen, die ich seither vermieden hatte, obgleich mich eine geheimnisvolle Macht hinzuziehen schien. Schon aus einiger Entfernung konnte ich bemerken, daß das Mädchen, wie damals, in der Nähe des Zaunes saß. Ich fühlte einen heftigen Ruck am ganzen Körper, und unwillkürlich wendete ich mich zur Umkehr. Doch schon schämte ich mich auch dieser unwürdigen Feigheit und beschloß, der Gefahr, wenn es denn wirklich eine sein sollte, mutig zu begegnen; schritt also jetzt an der Sitzenden, ohne ihr einen Blick zu schenken, vorüber. Stop aber hielt an und wedelte ihr wie einer guten Bekannten entgegen. Sie lockte ihn an sich heran. Ich pfiff; doch da sie ihm den Kopf kraute, folgte er nicht gleich. Das ärgerte mich. ›Laß den Hund in Ruhe!‹ herrschte ich ihr zu, mit einer halben Wendung stehen bleibend.

›Kann ich dafür, daß er mich kennt?‹ antwortete sie ruhig, ohne aufzusehen. ›Er weiß sich nicht zu verstellen, wie Ihr.‹

›Was willst du damit sagen?‹ erwiderte ich barsch.

›Warum tut Ihr, als sähet Ihr mich nicht?‹

›Sei froh, wenn ich dich nicht sehe‹, sagte ich bedeutungsvoll.

›Ach geht!‹ sagte sie, indem sie sich von dem Stein erhob und langsam auf mich zukam. ›Ich habe ja doch Tag für Tag hier auf Euch gewartet.‹

›Auf mich? Weshalb?‹

Sie erwiderte nichts, sah mich aber mit einem Blick an, der mir das Blut sieden machte – und mich doch gleichzeitig derart empörte, daß ich mit ungeheuchelter Entrüstung ausrief:[136] ›Du bist ein schamloses Ding! Schau, daß du fortkommst – und das sogleich!‹

Sie blickte mich halb erschreckt, halb ungläubig an, während ein blödes Lächeln um ihre roten, halb geöffneten Lippen spielte.

›Hast du gehört? Hinweg! sag' ich!‹ Damit trat ich, den Arm gebieterisch ausgestreckt, so drohend auf sie zu, daß Stop trotz seiner freundlichen Gesinnung bedenklich zu knurren anfing.

Sie bebte zusammen; gleich darauf aber kam ein tückischer, herausfordernder Trotz in ihrem Antlitz zum Vorschein; es war, als wollte sie sich zur Wehr setzen. Dann aber nahmen ihre Züge plötzlich den Ausdruck vollständiger Gleichgültigkeit an. ›Nun ja; tut nicht so böse und schreit nicht. Ich gehe schon. Aber schenkt mir wenigstens etwas. Ich habe Hunger. Und seht, das Kleid geht schon ganz in Fetzen – auch habe ich keine Schuhe –‹

›Du brauchst Schuhe – du Strauchdiebin!‹ rief ich hart.

Sie zuckte wieder zusammen; ihre Augen waren ganz dunkel geworden und blitzten vor Wut und Haß. ›Warum heißt Ihr mich so?‹ rief sie mit geballten Fäusten. ›Euch habe ich nichts gestohlen.‹ Dann ließ sie allmählich die Arme sinken und sagte vorwurfsvoll: ›Ihr solltet mich nicht so nennen – gerade Ihr nicht.‹

Ich selbst hatte das Wort bereut, kaum daß ich es ausgestoßen. ›Warum läßt du's auch darauf ankommen‹, entgegnete ich milder. ›Und wenn du Hunger hast, warum arbeitest du nicht?‹

›Das geht nicht‹, erwiderte sie dumpf.

›Weshalb nicht?‹

›Es nimmt mich niemand.‹

›Das ist nicht wahr. Hast du's denn schon versucht?‹

Sie schüttelte das Haupt.

›So tu's!‹[137]

Sie blickte nachdenklich vor sich hin. ›Schenkt mir lieber etwas‹, sagte sie nach einer Weile.

›Nein, ich schenke dir nichts! Das hieße nur deine Trägheit, deine schlimmen Neigungen unterstützen. Oder doch –‹ fuhr ich fort, von einem plötzlichen Gedanken überkommen ›ja, ich will dir so viel schenken, daß du eine Zeitlang nicht zu hungern brauchst und dir ein paar Ellen Zeug an den Leib schaffen kannst; aber auch nur unter der einen Bedingung, daß du dich nach Arbeit umsiehst.‹

Sie schwieg und schien einen schweren inneren Kampf zu kämpfen. ›Es nimmt mich niemand‹, wiederholte sie endlich. ›Ihr wißt doch – –‹

›Ich weiß. Aber gerade deswegen wird und muß man dich nehmen; denn es ist jedermanns Pflicht, dir zu einem ordentlichen Leben zu verhelfen. Im Wirtschaftshofe findest du ganz gewiß Aufnahme. Wenn du willst, werde ich mit dem Adjunkten sprechen.‹

›Nehmt Ihr mich lieber‹, sagte sie, rasch aufblickend. ›Ihr könnt mich ja auch im Walde brauchen.‹

›Nein,‹ entgegnete ich verwirrt, ›nein, dazu ist es jetzt schon zu spät; die Kulturen sind ausgesetzt, und was ich dir sonst noch zu tun geben könnte, würde nicht weit reichen. Aber bei der Wirtschaft geht es erst jetzt so recht an. In der nächsten Woche beginnt die zweite Rübenhacke, dann die Heumahd, späterhin ist der Schnitt – und endlich die Rübenernte. So hättest du Beschäftigung und Verdienst bis tief in den Herbst hinein. Willst du?‹

Ich sah, daß sie zu keinem Entschluß kommen konnte und wie verloren vor sich hinstarrte. Ich trat ihr näher und zog die Börse. ›Schau,‹ sagte ich in mildem Tone, ›du bist ein hübsches Mädchen; warum willst du nicht auch brav und rechtschaffen sein? Wie heißt du denn eigentlich?‹

›Maruschka‹, sagte sie still.

›Also, Maruschka, warum willst du nicht, wie all die anderen,[138] dein tägliches Brot erwerben – für dich – und auch für deine Eltern, die nun einmal zur Arbeit nicht mehr taugen? Dein Beispiel würde den Bruder aneifern – und ihr könntet alle miteinander noch ehrsame Leute werden, statt in Elend und Schande zu verkommen. Denkst du denn gar nicht an deine Zukunft?‹

Ihre breiten, kräftigen Nasenflügel hatten während meiner Worte leise zu zittern begonnen; die Mundwinkel zogen sich schmerzlich herab – und jetzt brach sie in ein unaufhaltsames, lautes Weinen aus.

›Siehst du?‹ fuhr ich fort, indem ich mit der Hand leicht über ihr sprödes Haar fuhr. ›Nimm dir's zu Herzen. Heute ist Freitag – übermorgen, Sonntags, in aller Frühe begib dich nach dem Hofe und melde dich zur Arbeit. Willst du?‹

›Ich will‹, sagte sie schluchzend.

›Nun also. Da nimm! Es ist so viel, als ich eben kann. Aber ich baue auf dein Versprechen. Und daß du mir nicht mehr in den Wald kommst! Hörst du?‹

Sie schüttelte unter Tränen das Haupt, zum Zeichen, daß sie nicht wiederkommen wolle.

›Und nun leb' wohl‹, sagte ich.

Sie hielt die Gabe in der fest geschlossenen Hand. Stumm, gehorsam, noch immer leise weinend, wandte sie sich und ging.

Mit freier, gehobener Brust atmete ich auf. Alle unlauteren, häßlichen Empfindungen waren in mir wie hinweggespült; ich hatte nur das frohe Gefühl, wohl gehandelt zu haben.

Ich erstieg die Anhöhe und wartete, bis Maruschka aus dem Walde in die sonnige Ebene hinaustrat. Sie blickte nicht um, sondern schritt mit gesenktem Haupte zwischen den leuchtenden Kornfeldern dahin. Endlich trocknete sie sich die Augen und begann dann langsam und vorsichtig die Banknote zu entfalten, die ich ihr in die Hand gedrückt.

Quelle:
Ferdinand von Saar: Sämtliche Werke in zwölf Bänden. Band 9, Leipzig [1908], S. 129-139.
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