II.

[12] »Unser Vater war ein angesehener Bürger, der in der kleinen Stadt Krumau im Böhmerwalde einen ausgebreiteten, altbewährten Handel mit Honig und Wachs betrieb. Außer einem stattlichen Hause mit einer sogenannten Lebküchlerei besaß er vor der Stadt zwei große Gärten mit Bienenständen und im Umkreise dieser Anlagen eine ergiebige Feldwirtschaft. Als stiller, zurückgezogener Mann hatte er sich erst spät verheiratet und zwar mit einem Mädchen, das gleichfalls nicht mehr sehr jung, aber von ganz außerordentlicher Schönheit war. Sie stammte aus einer Familie, die, obgleich seit Menschengedenken in Krumau ansässig, ihren Ursprung von einem italienischen Einwanderer herleitete. Schon der Name Fossatti ließ das erkennen, und in der späten Enkeltochter war die fremde Rasse wieder mit voller Deutlichkeit zum Durchbruch gekommen. Nicht bloß im Äußeren, das ganz den südlichen Typus aufwies, sondern auch im Temperament und Charakter. Es konnte kaum eine lebhaftere, reizbarere und heftigere Frau geben, als meine Mutter, und sie hat ihrem sanften, zur Ruhe und Bequemlichkeit neigenden Gatten das Leben oft recht schwer gemacht. Auch an Grund zur Eifersucht mochte es anfänglich nicht gefehlt haben. Denn unser Laden vertrat in der Kleinstadt gewissermaßen die Stelle einer Konditorei, der auch männliche Besucher nicht fern blieben; gewiß weit mehr durch die reizvolle Erscheinung der dunkeläugigen Frau angezogen, die den Verkauf leitete, als von den ziemlich derben Süßigkeiten, die mit einem allerdings sehr schmackhaften Met geboten wurden. Das soll keine Anklage sein. Ich bin vielmehr überzeugt, daß meine Mutter die angelobte Treue unverbrüchlich bewahrt hat. Vielleicht nicht ganz ohne Kampf mit ihrem heißen Blute, aber geschützt durch eine andere große Leidenschaft, die sie im Herzen trug und welche ihr sehr bald Sinn und Verständnis für alles übrige benahm.[13]

Sie hatte rasch nacheinander drei Kindern das Leben geschenkt. Das erste, ein Mädchen, starb bald nach der Geburt; das zweite war ich – das dritte mein Bruder, der bei der Taufe den Namen Franz Xaver erhielt. Zu diesem Knaben, der, als er das Licht der Welt erblickte, schon ihre Züge trug, faßte unsere Mutter eine an Raserei grenzende Liebe. Sie erdrückte ihn fast mit ihrer Zärtlichkeit, verhätschelte und verzog ihn in jeder Weise, von nun ab eigentlich nur mehr für ihren Xaver lebend. Dieser aber hatte auch ihr heftiges Naturell ererbt, das bei ihm als äußerste kindliche Bosheit zutage trat. Schon in der allerersten Zeit unseres gemeinsamen Aufwachsens hatte ich darunter schwer zu leiden. Kaum, daß er seinen Willen nur einigermaßen frei betätigen konnte, entriß er mir alles, was mein war: jedes Spielzeug, jedes Naschwerk – ja selbst die mir zugemessene Nahrung, obgleich er die seine stets reichlicher und auch, wenn möglich, schmackhafter erhielt. Dabei behandelte er mich als Sklaven. Ich sollte ihm auf den Wink gehorchen, und wenn das nicht sofort geschah, schlug er in sinnloser Wut mit geballten Fäusten auf mich los. In angeborener Gutmütigkeit ließ ich es mir meistens gefallen; auch widerstrebte es mir, meine weit überlegene körperliche Kraft dem zartgebauten, schmächtigen Bruder gegenüber zur Geltung zu bringen. Das aber reizte ihn nur noch mehr. Er überbot sich in seinen Angriffen, und wenn ich ihn dann, zur Abwehr getrieben, mit einer gelinden Tätlichkeit in die Schranken wies, begann er augenblicklich zu heulen und lief zur Mutter mit der Anklage, ich hätte ihn mißhandelt, was mir ihrerseits heftige Schelte und oft genug auch Schläge eintrug. Dann jubelte er schadenfroh. Infolgedessen wurde ich begreiflicherweise immer duldsamer; er aber verachtete mich darob und verspottete meine Furchtsamkeit, wie er mich später auch stets einen Feigling nannte, wenn ich an seinen schlimmen Knabenstreichen nicht teilnehmen wollte. Ließ ich mich manchmal doch dazu herbei, so schob er, wenn wir ertappt wurden, die Schuld der Anstiftung auf mich, und so hatte[14] ich zuletzt stets das Bad auszugießen. Als ich anfing, die Schule zu besuchen, trachtete er, mich durch allerlei Schabernack im Lernen und bei meinen schriftlichen Arbeiten zu stören; sein größtes Vergnügen war, meine Hefte und Bücher zu besudeln oder zu zerreißen. Trotzdem machte ich, da ich fleißig und aufmerksam war, gute Fortschritte, um die er mich, da er sich endlich selbst der Schule bequemen mußte, beneidete. Und dieser Neid steigerte sich allmählich zum Haß. Denn obgleich es ihm keineswegs an Fähigkeiten gebrach, war er doch ein abgesagter Feind alles Lernens. Er blieb vollständig zurück. Auch über sein sonstiges Verhalten hatten die Lehrer stets zu klagen, während ich – leider muß ich es aussprechen – zum Verdruß meiner Mutter die besten Zeugnisse mit nach Hause brachte. Sie aber hatte für meine Erfolge nur düstere Blicke und ärgerliches Schweigen. Auch mein Vater, der jedem Anlaß zu häuslichem Unfrieden ängstlich aus dem Wege ging, wagte es nicht, mich zu loben, und so kam es, da ich, um drohenden Zerwürfnissen vorzubeugen, mein Licht selbst unter dem Scheffel barg. Ich stellte mich allmählich träg, leichtsinnig und unwissend, blieb also auch schließlich in der Klasse weit zurück. Das aber gab ihm plötzlich den Ansporn, mich in seiner zu überflügeln, was ihm jetzt leicht genug gelang – zur großen Freude der Mutter, die mich nunmehr weniger lieblos behandelte, während er, hochmütig und stolz auf seine Siege, mich bei jeder Gelegenheit einen Dummkopf und Faulpelz nannte. Das waren die ersten Güsse des bitteren Trankes, mit dem mir mein Bruder den Kelch des Lebens füllte ...

Quelle:
Ferdinand von Saar: Sämtliche Werke in zwölf Bänden. Band 11, Leipzig [1908], S. 12-15.
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