IV.

[24] »Was ich dabei gefürchtet hatte, war das Wiederzusammentreffen mit jener Dame. Aber der Herr Gesandte war allein gekommen. Seine Gemahlin hatte in einem nordischen Seebade einen russischen Fürsten kennen gelernt und sich scheiden lassen. An der Seite des Russen soll sie in Petersburg noch eine sehr hervorragende Rolle gespielt haben – und tugendhaft geworden sein. Das kommt manchmal bei solchen Frauen vor, wenn sie zufällig auf den Richtigen treffen – und nebenbei ein wenig zu altern anfangen. Sie aber stand eigentlich noch immer in der Blüte ihrer Jahre, als sie plötzlich starb. Ich hatte es erst einige Zeit nach ihrem Tod erfahren. Aber die Kunde traf mich wie ein heftiger Schlag ins Innerste, der mich fühlen ließ, wie sehr ich dieses Weib geliebt hatte.«

Er schwieg, in Gedanken versinkend. Dann fuhr er fort: »Das Leben in Spanien war mir inzwischen immer öder geworden. Die Liebschaften der dicken Königin Isabella und die beständigen Pronunziamentos langweilten mich mehr als sie mich aufregten. So griff ich endlich wieder zum Schwert und machte das Mexikanische Abenteuer mit. Nach dem unglücklichen Ausgang unternahm ich noch eine Reise nach Paris und London und kehrte in unsere mährische Heimat zurück. Mein Bruder residierte, da unser Vater gestorben war, schon als Fürst in Roggendorf, wo jetzt auch ich meine Tage beschließen will.

An die Worels dachte man schon längst nicht mehr. Einmal aber kam doch die Rede auf sie, und mein Bruder sagte: ›Wie ich höre, ist es ihnen eine Zeitlang ganz gut gegangen. Er ist ja wirklich ein geschickter Mensch, und die ersteren Arbeiter in jener Kunsttischlerei sollen sehr gut bezahlt werden. Aber in seiner Familie hatte er Unglück. Die Olga, die in Blansek die Bewerbungen eines unserer Forstleute schnöd zurückgewiesen, hat sich in der Stadt mit dem Sohn eines reichen Fabrikanten[25] eingelassen. Er soll ihr die Ehe versprochen haben. Als sie aber durch ihn in andere Umstände gekommen war, verließ er sie. Man sagt, es sei eine böse Geschichte gewesen, denn Papa Worel wollte es mit Gewalt durchsetzen, daß sie der junge Herr zu seiner Frau mache. Aber es nützte nichts; sie mußten sich mit einer nicht unansehnlichen Abfindungssumme zufrieden geben. Aber da war auch gleich ein Schwindler da, der die Vaterschaft und auch das Kapital auf sich nahm, indem er Olga heiratete. Er hatte die Absicht, eine Fabrik Zu errichten, in der alte Tuchreste zu frischen Stoffen verarbeitet werden sollten. Nach ein paar Jahren war das Geld zum Teufel gegangen, und da auch Wechselfälschungen mitspielten, kam der Herr Gemahl ins Zuchthaus. So mußte die Olga mit zwei Kindern zu ihrem Vater flüchten. Und der Schlingel von Sohn ist natürlich nicht einmal durch die zweite Gymnasialklasse gekommen. Er hat sich dem Violinspielen gewidmet, um es darin, wie der Alte versichern soll, zur Meisterschaft zu bringen. Nun, wir werden ja sehen.‹

Nicht lange nach diesem Gespräch wies mir mein Bruder ein Schreiben vor, das er eben von Worel erhalten hatte. Dieser teilte darin mit, daß er unverschuldet in eine große Notlage geraten sei, die jetzt um so drückender geworden, als ihn seine Frau wieder mit einem Kinde – einem Knaben, beschenkt habe. Er bitte daher, ihm einen Vorschuß von dreihundert Gulden zu gewähren, welche Summe er in kleinen Monatsraten dankbarst von seiner Pension zurückerstatten werde.

›Was wirst du tun?‹ fragte ich.

›Auf Ratengeschäfte lasse ich mich nicht ein‹, erwiderte mein Bruder. ›Aber ich werde ihm das Geld schicken, damit er sieht, daß man ihm nichts nachträgt.‹

›Weißt du was?‹ sagte ich. ›Ich muß dieser Tage ohnehin nach der Stadt fahren, und werde ihm das Geld überbringen.‹

Mein Bruder sah mich etwas erstaunt an. Da ich aber[26] erklärte, es interessiere mich, die Verhältnisse kennen zu lernen, in denen die Leute jetzt lebten, so stimmte er zu.

Ich begab mich also schon am nächsten Tage nach der Stadt. Es war Sonntag und ich hoffte, da Worel in seiner Wohnung anzutreffen. Diese befand sich in einer breiten, entlegenen Straße, in der noch sehr viele alte und niedere Häuser standen. Dazwischen waren mehrstöckige neue Bauten aufgeführt worden. Echte Proletarierhäuser. In einer dieser Zinskasernen hauste er jetzt, hoch oben in der letzten Etage. Schon im Torweg schlug mir ein beklemmender Geruch entgegen, der sich in jedem Stockwerk in einen andern Mißduft auflöste. Endlich war ich vor der gesuchten Tür angelangt, die halb offen stand. Drinnen im Dunst des Herdes kochte die bucklige Maruschka das Mittagessen. Als sie mich erblickte und erkannte, ließ sie den Löffel fallen, stürzte nach der Zimmertür, riß sie auf und schrie hinein: ›Graf Erwin ist da!‹ Ich vernahm, wie die Leute überrascht und bestürzt durcheinander fuhren; sie wußten offenbar nicht, wie sie mich empfangen sollten. Ich aber war schon eingetreten. In der Mitte eines kleinen, mit allerlei brüchigem Hausrat vollgepfropften Zimmers war Worel zu sehen, seinen jüngsten Sprößling auf dem Arm. In einiger Entfernung von ihm, an allen Gliedern zitternd, sein gealtertes, abgehärmtes Weib. Links stand eine schmale Kammer offen, in welche zwei notdürftig bekleidete und widerstrebende Kinder hineinzuziehen Olga bemüht war. Ein Blick auf sie genügte mir, um zu erkennen, daß sie noch immer schön – aber ihr Antlitz auch schon von scharfen Furchen durchzogen war. In der Kammer saß, mager und dünnbärtig, ein junger Mann mit fahlem Gesicht und finster blickenden Augen. Als es gelungen war, die Kinder hineinzubringen, zog Olga die Tür hinter sich zu.

›Herr Worel,‹ sagte ich jetzt, während mir die Frau einen abgenützten Stuhl zurechtschob, ›ich überbringe Ihnen hier im Auftrag meines Bruders die erbetene Summe. An Rückzahlung[27] brauchen Sie nicht zu denken, und wir wünschen nur, daß Ihnen damit geholfen sei.‹

Der Mann hatte sich inzwischen gefaßt. ›Ich danke sehr‹, erwiderte er gemessen, während er den Säugling in den Arm der Mutter legte, deren Augen bei meiner Rede feucht geworden waren. Es wird sich schon alles wieder machen. Ich hoffe auf einige größere Arbeiten außer Akkord. Es ist, wie ich mir mitzuteilen erlaubte, nur eine momentane Notlage. Der da' – er wies auf das Kleine – ›hat sie auf dem Gewissen. Im übrigen verspricht er, ein prächtiger Bursch zu werden. Sehen ihn Erlaucht nur an. Nicht wahr? Eine ganz tüchtige Leistung von Eltern in so späten Jahren.‹

Während ich nach dem Kinde blickte, das keinen Tropfen Blut in den Adern zu haben schien, aber jetzt heftig zu schreien anfing, ging die Zimmertür auf und der Sohn Worel trat mit einer kurzen Verbeugung herein. Breitspurig, aufgedunsen, das vulgäre Gesicht von langen Haaren umwallt.

›Das ist mein Franz‹, sagte Worel. ›Erkennen ihn Erlaucht noch? Er hat sich ganz auf die Musik geworfen. Er hofft auch bald im Orchester des Stadttheaters einen Platz zu finden.‹

›Ich gratuliere‹, sagte ich, während der Virtuose mit einem blöden Lächeln vor sich hinstierte. ›Und nun leben Sie alle wohl‹, fügte ich mit einem letzten Blick auf die geschlossene Kammertür hinzu und ging, von Worel durch die Küche geleitet.

Als ich langsam und vorsichtig die schmutzige Treppe hinunterschritt, vernahm ich, wie mir jemand nachgehuscht kam. Es war die Frau. ›Verzeihung, Erlaucht‹, flüsterte sie. ›Haben die Gnade, nur auf ein Wort –‹

›Was wünschen Sie, liebe Frau Worel?‹ fragte ich, auf einem Absatz der Treppe stehen bleibend.

›Ach, mein Gott‹, erwiderte sie, und brach in Tränen aus. ›Wir sind so unglücklich!‹[28]

›Unglücklich? Ihr Mann sprach doch nur –‹

›Ach der!‹ unterbrach sie mich. ›Der sieht immer alles ganz anders an. Wie er es eben haben möchte. Und dann schämt er sich auch. Und unsere jetzige Notlage wäre auch das geringste. Worel ist ja fleißig und verdient viel. Aber die Kinder!‹ Sie hielt sich schluchzend die Hände vor die Augen.

›Was ist es mit den Kindern?‹

›Ach der Franz! Der ist ein Lump geworden. Mit dem Geigenspielen ist es nichts, rein nichts. Der Meister, zu dem er ging, hat ihn aufgegeben. Er soll gar kein Talent haben. Und nun lungert er den ganzen Tag herum, trinkt und macht Schulden. Das mit dem Theaterorchester hat er dem Vater vorgelogen.‹

Ich wußte nicht, was ich erwidern sollte, und zuckte daher bloß die Achseln.

›Und dann die Olga! Ihre traurigen Schicksale werden in Roggendorff wohl bekannt geworden sein. Nun aber hat sie einen Menschen kennen gelernt, der in einer Spinnfabrik arbeitet. Die Leute sagen, daß er ein Sozialist ist und schlechte Gedanken im Kopf hat. In den hat sie sich verliebt. Zum erstenmal in ihrem Leben! Denn alles andere war doch nur so. Und nun, da ihr Mann im Gefängnis gestorben ist, will sie ihn heiraten – und selbst Arbeiterin in der Spinnfabrik werden. Denken Sie nur, Erlaucht, unsere Olga in einer Spinnfabrik!‹

Mir schien das nicht gerade das allergrößte Unglück zu sein. Aber ich dachte daran, daß ich sie einst selbst hatte heiraten wollen. ›Nun, wenn sie durchaus will,‹ sagte ich, ›so läßt sich nichts dagegen tun. Sie ist großjährig.‹

›Ja, ja,‹ entgegnete die Frau, ›es läßt sich nichts machen! Sie hat einen harten Kopf, gerade wie mein Mann. Aber es wird kein gutes Ende nehmen.‹

›Nun, wer weiß‹, sagte ich. ›Sie kennen ja den alten Spruch: des Menschen Wille ist sein Himmelreich.‹[29]

›Ach Gott!‹ sagte sie, trostlos aufblickend. ›Und jetzt auch noch das Kind. Daß uns das hat geschehen müssen!‹

›Sie müssen es jetzt eben hinnehmen. Aber verzweifeln Sie nicht. Wir werden Sie nicht verlassen.‹

›O tausend Dank!‹ rief die Frau, wieder in Tränen ausbrechend. ›Auch Seiner Durchlaucht für die gütige Gabe!‹ Sie wollte meine Hand erfassen und küssen.

›Ist gern geschehen‹, sagte ich, mich losmachend. ›Und schreiben Sie nur, wenn Hilfe nottut.‹

Während ich jetzt die Treppe vollends hinabstieg und dem Innern der Stadt zuschritt, gedachte ich der Zeiten, da diese Menschen in einem behaglichen Heim, von frischer, gesunder Luft umweht, ein kräftig blühendes Dasein führten. Und jetzt atmeten sie dort oben in dem verpesteten Hause, in enge Räume Zusammengepfercht, dem Elend preisgegeben! Dieser Wandel der Dinge durchschauerte mich, als hätte ich ihn am eigenen Leibe erfahren, und unwillkürlich sprach ich wieder die banale Phrase vor mich hin: des Menschen Wille ist sein Himmelreich.«


* Fag*

*


»Alles Weitere ist bald erzählt«, fuhr der Graf nach einer Pause fort. »Welchen Ausgang Olga genommen, wissen Sie. Ihr älterer Bruder blieb ein Taugenichts, der in schlechten Wirtshäusern aufspielte. Schließlich wurde er zum Landstreicher und soll in einer offenen Scheune, darin er einmal bei starkem Winterfrost genächtigt, erfroren sein. Ein bezeichnendes Ende hat der Vater genommen. Er hatte sich durch sein selbstbewußtes, hochfahrendes Wesen schon lange bei seinen Mitarbeitern verhaßt gemacht. Als man einmal eine Lohnerhöhung durchsetzen wollte, arbeitete er während des Streiks im geheimen für den Besitzer der Tischlerei fort. Wohl durch Not dazu bewogen, aber noch mehr durch seine Eitelkeit. Denn es wurde ihm gesagt, daß nur er imstande sei, einen kleinen, besonders komplizierten Schrank anzufertigen, der von einer vornehmen[30] Persönlichkeit dringend bestellt worden war. Die Sache wurde entdeckt und von den Ausständigen sehr übel aufgenommen. Sie überfielen ihn bei günstiger Gelegenheit und prügelten ihn weidlich durch. Das schien weiter keine Folgen gehabt zu haben. Nach und nach aber begann er zu kränkeln, und eines Tages starb er ohne bestimmt nachweisbare Todesursache. So sind jetzt nur mehr drei Familienglieder am Leben. Die Mutter, die älteste Schwester, welche beide sich mit ihrer Hände Arbeit durchbringen – und der Jüngste, der den romantischen Namen Jaroslav führt. Wie es heißt, ein hübscher, anstelliger Knabe. Er soll auch ein sehr fleißiger Schüler sein und genießt von uns einen Erziehungsbeitrag. Vielleicht ist er schon der Mensch der Zukunft.«

Quelle:
Ferdinand von Saar: Sämtliche Werke in zwölf Bänden. Band 12, Leipzig [1908], S. 24-31.
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