V.

[135] Als Schirmer nach Hause kam, lag Weißeneder schon im Bett und schien zu schlafen. Von den anderen Zimmergenossen hatte sich der eine gegen Abend mit der Bahn nach Klosterneuburg begeben, wo er Bekannte hatte, bei denen er den morgigen Sonntag zubringen wollte. So saß Herr Wufka allein am Tische bei einem Glase Bier und rauchte seine Pfeife. Schirmer begrüßte ihn flüchtig und trachtete gleich ins Bett zu kommen. Denn er fühlte sich sehr ermüdet und verspürte ziehende Schmerzen im linken Bein, was immer auf einen bevorstehenden Witterungswechsel deutete. Er schlief auch sehr bald ein. Aber schon nach ein paar Stunden erwachte er wieder und konnte keine rechte Ruhe mehr finden. Das Bein schmerzte stärker, und die Gedanken begannen in seinem Kopfe herumzugehen, während in einiger Entfernung von ihm Herr Wufka die gewohnten Schnarchtöne von sich gab. Und da fragte sich Schirmer auch wieder, was denn die Hanstein und den Weißeneder, die er im Krapfenwaldl vermutet hatte, in das kleine Wirtshaus in der Krottenbachstraße geführt haben könnte. Das hing so zusammen. Die Hanstein war eine Lotterieschwester, die immer auf eine Terne hoffte, obgleich sie niemals im Leben eine gemacht hatte. Trotz ihrer Bildung, mit der sie bei jeder Gelegenheit prahlte, war sie seit jeher sehr abergläubisch gewesen, und so fiel ihr plötzlich ein, daß sie an ihrem Namenstage besondere Chancen habe, auf[135] dem Kieselgrunde des Sieveringer Brünndls unfehlbare Nummern wahrzunehmen. Sie änderte also in zwölfter Stunde das verabredete Ziel des Ausfluges und bestieg mit ihrem Galan einen nicht weit vom Versorgungshause vorüberfahrenden Stellwagen, der das Paar nach Sievering brachte. Dort hielten sie im Gasthause »zur heiligen Agnes« Mittag und begaben sich dann durch eine kurze Waldstrecke zum Brünndl, wo denn auch die Hanstein mit Hilfe einiger in der Kabbala sehr bewanderter Weiber, die sich an diesem Orte immer geschäftsmäßig herumtrieben, die unfehlbaren Nummern wahrnahm und auf einem Stückchen Papier notierte. Dann ging sie mit Weißeneder tiefer in den Wald hinein, wo sich die beiden an geeigneter Stelle ins Gras niederstreckten und im kühlen Schatten der Buchen zwei Stunden fest schliefen. Als sie erwacht waren, handelte es sich darum, was man jetzt weiter unternehmen sollte. Die Hanstein fand, daß es für heute genug sei. Für morgen aber hatte ihr unternehmender Geist eine Nachfeier ihres Namenstages entworfen. Man sollte schon am frühen Vormittag nach der Stadt fahren und dem Hochamte in der Augustinerkirche beiwohnen. Diese religiöse Feierlichkeit spielte nämlich in ihren unvergänglichen Jugenderinnerungen die größte Rolle. Denn bei einem Hochamte in der Augustinerkirche, dem sie eines Sonntags ganz zufällig beigewohnt, hatte eine sehr hohe Persönlichkeit, die sich im Oratorium befand, mit ihr ein lebhaftes Augenspiel eröffnet. Und dieses Augenspiel setzte sich auch an mehreren folgenden Sonntagen fort, da sie es nunmehr nicht unterließ, jeden Sonn- und Feiertag in der Kirche zu erscheinen. Ja, es verstärkte sich so sehr, daß sie daran die kühne Erwartung knüpfte, es müsse jetzt und jetzt ein Abgesandter erscheinen und im Namen jener hohen Persönlichkeit einen Antrag auf morganatische Ehe vorbringen. Da dies nicht geschah, sondern vielmehr die hohe Persönlichkeit ebenbürtig heiratete und Wien verließ, so mußte sie auf diese Hoffnung verzichten. Sie hielt aber die innere Überzeugung aufrecht, daß hierbei nur die zwingendsten Standes- und Familienrücksichten[136] ausschlaggebend gewesen seien und daß jene Persönlichkeit bis zu ihrem im Laufe der Jahre erfolgten Tode in unauslöschlicher Liebe der Dame in der Augustinerkirche gedacht habe. So wollte sie denn morgen eine süßwehmütige Gedächtnisfeier abhalten, dann mit Weißeneder im Michaeler Bierhause zu Mittag speisen und schließlich den Prater besuchen. Dabei würde allerdings das Geld, das sie, wie Schirmer richtig vermutet hatte, als reichliches Almosen aus der Ferne er halten, bis zum letzten Kreuzer aufgehen. Aber was lag daran? Wenn sie sich nur einmal wieder so recht unterhalten konnte! Dann mußte man sich eben wieder einschränken. Darum sollte es auch für heute genug sein und gleich der kürzeste Rückweg durch die Weingärten nach Hause eingeschlagen werden. Weißeneder, der infolge seiner Neigung zu Venenentzündungen kein guter Fußgeher war, beantragte zwar zu fahren; sie aber behauptete, daß sie das Gerütteltwerden im Stellwagen nicht gut vertrage, und so machten sie sich auf die Beine und langten endlich auf etwas beschwerlichen Pfaden in der Krottenbachstraße an, wo sie in der einladenden kleinen Wirtschaft eine leichte Erfrischung einzunehmen beschlossen.

Schirmer also konnte lange nicht mehr einschlafen. Endlich so gegen Morgen geschah es. Als er erwachte, stand die Sonne schon hoch am Himmel. Er blickte nach der alten Schwarzwälderuhr an der Wand. Es fehlte nicht viel auf acht. Da hieß es sich sputen, um zu rechter Zeit zu kommen – und nicht etwa gar durch irgendeinen Zwischenfall aufgehalten zu werden. Er wusch sich rasch und begann sich anzukleiden. Er war noch nicht ganz fertig damit, als er zu seinem Erstaunen – von den Plänen der Hanstein wußte er ja nichts – bemerkte, daß Weißeneder, nachdem er sich gestreckt und mehrmals laut gegähnt hatte, gleichfalls vom Lager aufstand und sich zu waschen begann. Das war dem Schirmer keineswegs angenehm, und er trachtete, in aller Eile ohne Gruß fortzukommen. Als er aber die Türklinke ergriff, vernahm er, wie Weißeneder mit barscher Stimme rief: »Schirmer!«[137]

Dieser hielt an und fragte, halb zurückgewendet: »Was wollen S' denn?«

»Wo gehn S' denn hin?«

»Fort geh' ich.«

»Bleib'n S' da!«

Gegen diesen Befehl sträubte sich Schirmer im innersten. Aber das Wort des anderen hatte eine suggestive Macht über ihn, und er blieb stehen. »Warum soll ich denn dableiben?« fragte er zögernd.

»Wo wollen S' denn eigentlich hin?« entgegnete Weißeneder, sein schütteres Haupthaar vor einem kleinen, halberblindeten Hängespiegel mit Kamm und Bürste behandelnd.

Schirmer wußte nicht, was er erwidern sollte. Auf diese inquisitorische Frage war er nicht vorbereitet. Auch hatte er niemals – schon als Knabe nicht – lügen können und war immer gleich mit der vollen Wahrheit herausgerückt, wenn ihm auch diese zum Nachteil gereichte. Eine schöne und seltene Eigenschaft, aber auch ein Beweis großer Schwäche. Diesmal aber wollte er doch nicht gestehen, daß er mit der Rosi eine Zusammenkunft habe, und sagte unsicher: »Ich hab' halt was z' tun.«

Weißeneder begann vor dem Spiegel seine Halsbinde zu knüpfen. »Sie müssen heut' z' Haus' bleiben«, sagte er, ohne umzublicken.

»Warum denn?«

»Weil i fortgeh'. Und es is möglich, daß heut der Bürgermeister inspizieren kommt, und da muß jemand im Herrenzimmer sein.«

»Es ist ja der Wufka da«, erwiderte Schirmer, auf diesen hindeutend, der noch im Bette lag.

»Der hat heut an wichtigen Gang.«

»Aber ich hab' auch einen«, versetzte Schirmer, der jetzt doch schon anfing, gereizt zu werden.

Der andere hatte die Halsbinde geknüpft und drehte ihm[138] die Vorderansicht zu. »So«, sagte er, ihn mit giftigem Hohn angrinsend, »vielleicht gar mit der Weigel?«

Schirmer fühlte, daß es nun ernst werde und wollte einlenken, damit er nicht gerade jetzt zum äußersten gedrängt werde. Aber die Galle, die freilich nur die einer Taube war, begann ihm zu schwellen. »Na, und wenn ich einen Gang mit der Weigel vorhätt'!« stieß er hervor.

»So«, sagte Weißeneder, nahe herantretend und ihn mit den kleinen undurchsichtigen Schlangenaugen anbohrend. »Wie sein S' denn eigentlich mit dem Weib bekannt wor'n?«

Schirmer wand sich förmlich unter diesen Blicken, die ihn ängstigten und doch aufstachelten. »Was geht denn das Ihnen an?« sagte er.

»Eigentlich nix. Sö aber sollten sich schamen.«

»Warum denn?«

»Weil's a Schand' ist, daß Sie mit ihr ins Wirtshaus gehn und sie dort abbusseln.«

»Von abbusseln is ka Red'.«

»So? Glauben S' vielleicht, ich hab's net g'sehn?«

Schirmer konnte nicht mehr an sich halten. »Na«, sagte er herausfordernd, »und wenn Sie's auch g'sehn hätten? Sie haben am wenigsten drüber z' reden!«

»Was!?« schrie der andere, die Arme in die Seite stemmend und den knöchernen Schädel mit der vorspringenden Nase zu dem kleineren Gegner niederbeugend.

»Nein, Sie haben gar nix z' reden«, schrie dieser. »Kehren S' den Mist vor Ihrer eigenen Tür!«

»Was? Was?« wiederholte kreischend Weißeneder.

»Ich lass' mich von der Weigel net aushalten, wie Sie von der alten Hex'!«

Das Antlitz Weißeneders verzerrte sich. Er öffnete den weitgeschlitzten zahnlosen Mund, als wollte er Schirmer verschlingen. »Sag'n S' das no' mal, Sö Fallott!« stieß er in pfeifendem Ton hervor.[139]

»Wenn Sie's no anmal hör'n wollen, so sag' i's halt no anmal. Sie lassen Ihnen von der Hanstein aushalten! Ob Sie s' auch abbusseln müssen, das weiß i net. Wann aber einer von uns ein Fallott is, so sein Sie's! Denn i bin net im Kriminal g'sessen.«

Kaum hatte er diese Worte ausgestoßen, als er auch schon einen Schlag ins Gesicht bekam, daß er zurücktaumelte. Es war die erste tätliche Mißhandlung, die er als Erwachsener erlitten; selbst als Kind war er, dank seiner Mutter, körperlich niemals gezüchtigt worden. Einen Augenblick blieb er fassungslos. Dann griff er in ausbrechender Wut instinktiv nach dem Henkelglase, aus dem Wufka gestern abends Bier getrunken, um es als rächende Waffe gegen den stärkeren Feind zu gebrauchen. Er schwang es und stürzte damit auf Weißeneder los. Dieser aber hatte ihn schon mit beiden Händen, die den Fängen eines großen Raubvogels glichen, am Halse gepackt. Ein kurzes, heftiges Ringen entstand, wobei der sehnige Weißeneder den ungelenken und schwerfälligen Angreifer gegen die Wand drückte. Dort hielt er ihn fest, indem er ihm das Knie in die Weiche stemmte. Dabei traf er, ohne es zu wollen, die Stelle, wo Schirmer den alten Schaden am Leibe hatte. Der Bedrängte brüllte laut auf vor Schmerz, es wurde ihm dunkel vor den Augen, und bewußtlos glitt er allmählich unter dem Drucke zu Boden.

»Mein Gott! Was haben S' denn da gemacht!?« schrie Wufka und sprang aus dem Bett, wo er bis jetzt angesichts der beiden Streitenden als sich freuender Dritter verweilt hatte. »Sie hab'n 'n ja um'bracht!« Er beugte sich forschend über Schirmer, der wie tot dalag.

»A was!« sagte Weißeneder, indem er den leise Stöhnenden mit dem Fuße anstieß, »der Kerl wird schon wieder aufstehn!«

Aber Schirmer stand nicht wieder auf. Sie mußten ihn ins Bett tragen und sich entschließen, den Armenarzt zu verständigen. Als dieser endlich erschien, fand er das ganze Haus in[140] Bewegung und wurde ins Herrenzimmer gewiesen. Dort traf er den Schwerverletzten bei halbem Bewußtsein, laut jammernd und in rasenden Schmerzen sich windend. Nach rascher Untersuchung erklärte er, daß es äußerst schlimm stehe; nur von einer unverzüglichen Operation könne vielleicht Rettung erhofft werden. Aber es war zu spät. Schirmer starb während der Fahrt in dem Krankenwagen, der ihn in das Spital bringen sollte.

Quelle:
Ferdinand von Saar: Sämtliche Werke in zwölf Bänden. Band 12, Leipzig [1908], S. 135-141.
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