Proles

[246] Es war im frühen Lenz. Hell schien die Sonne,

Beleuchtend warm das zarte junge Grün;

Ein Zittern rings, ein Athmen still in Wonne –

Und duft'ger Veilchen tief verborg'nes Blüh'n.


Ich hatte froh genützt den holden Morgen

Zu einem Gang in's weit gedehnte Land –

Nun kehrt' ich wieder zu den alten Sorgen,

Zur Stadt zurück längs eines Baches Rand.


Die ersten Häuser! Fast schon im Verfallen,

Obgleich man sie erst kürzlich aufgebaut!

Aus hohen Schloten sah ich's düster wallen

Und hörte der Fabriken Arbeitslaut.


O welche Luft, beklemmend und mephitisch,

Da schon mein Fuß die Gassen jetzt beschritt!

Halbnackte Kinder, blutleer und rhachitisch

Vor jeder Schwelle und bei jedem Tritt!
[247]

Und Buden rechts und links mit schlechten Waaren,

Auf die selbst Hunger nur mit Ekel trifft;

Zahlreiche Schenken für verkomm'ne Schaaren,

Die sich betäuben mit des Branntweins Gift.


Dazwischen ödes kleines Handwerktreiben

In nied'ren Erdgeschossen, feucht und dumpf –

Und hin und wieder, glotzend durch die Scheiben,

Siechthum und Müßiggang, verthiert und stumpf.


Und Weiber auch mit einem bitterbösen

Und harten Blick – doch lüstern frech zugleich;

Sie sah'n mich an wie Zukunftspetroleusen,

Vom Elend – und von jedem Laster bleich ...


Ich schauderte. Das bischen Frühlingswonne,

Das ich so gerne mit mir heimgebracht,

Ging unter wie ein irrer Strahl der Sonne,

Der sich verliert in Dämmerung und Nacht.

Quelle:
Ferdinand von Saar: Gedichte, Heidelberg, (2) 1888, S. 246-248.
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