Taedium vitae

[188] Das ist das taedium vitae,

So alt wie diese Welt,

Das auf des Daseins Höhen

Uns allgemach befällt.


Daß noch die Sonne aufgeht,

Wie abgebraucht und schaal;

O Schlummer, süßer Schlummer –

Erwachen, welche Qual!


Und dann des Tags Geleise,

Das ew'ge Einerlei –

Die Erde sammt dem Himmel

Ein ausgeblas'nes Ei.


Und rings die Ideale

Wie Disteln abgeköpft,

Und jede Kraft verdrossen,

Und jeder Wunsch erschöpft.
[189]

Nur einer wird zur Sehnsucht,

Zur Sehnsucht nach dem Tod –

Man möcht' ihn gleich erwarten

Im nächsten Straßenkoth.


Das ist das taedium vitae,

Das sich von selbst ergiebt,

Wenn man das liebe Leben

Dereinst zu sehr geliebt.

Quelle:
Ferdinand von Saar: Gedichte, Heidelberg, (2) 1888, S. 188-190.
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