Franziska

[160] Blick' ich dich an, du Hohe, Schlanke,

So weiß ich nicht, wie mir geschieht;

Schon lang umkreis't dich mein Gedanke,

Der immer wieder scheu entflieht.


Noch hab' ich dich nicht ganz empfunden,

Noch hab' ich dich nicht ganz erkannt;

Noch nicht den rechten Ton gefunden,

Der dich in meine Lieder bannt.


Von Mädchenwünschen hold umwoben,

Scheinst du oft träum'risch, wandelbar –

Dann wieder, stolz das Haupt erhoben,

So selbstbewußt, so kühl und klar.


Giebt's eine Liebe, dich zu lieben –

Und die auch deine Liebe weckt?

Wohl Mancher ist dir fern geblieben,

Von solchem Zweifel leis' erschreckt.
[161]

Oft ist es mir, als sollt' ich nahen,

Als sollt' ich fassen deine Hand,

Den zarten Leib dir sanft umfahen

Und küssen deiner Lippe Rand.


Doch folg' ich nicht dem Drang der Gluthen,

Der scheu aus meinem Innern bricht –

Und möchte nichts, als stumm verbluten

Vor deinem hellen Angesicht.

Quelle:
Ferdinand von Saar: Gedichte, Heidelberg, (2) 1888, S. 160-162.
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