Das Turkosgrab

Vier Thujabäume lispeln mürrisch, rauschen à la Byron und stehen gelangweilt tagaus tagein auf der Ruhestätte der in deutscher Gefangenschaft gestorbenen Turkos Mohamed Ben Abdelkader und Achmed Ben Hemen und kopfgroße Stücke grauen Muschelkalkes hat man zwischen sie geworfen; ringsum aber in den Flutmulden und auf den Rücken der weiten nur mit dünnem Humus bezogenen Kiesanhäufung blühen Enziane und weißstrahlige Lechfelddisteln, um am nächsten Tage von den nägelbeschlagenen Trampelstiefeln – im Marsch! Marsch! zertreten zu werden.

Nachdem die Hitze zwölf Stunden lang über den Asphaltdächern und dem also zertretenen Grase dieser weiten Kiesanhäufung gestanden hatte, der Himmel bläulich grau gewesen war und der aufgewirbelte Staub in den heißen Luftsäulen sich nicht hatte fortbewegen mögen, sondern braun und träge zwischen ihnen stehen geblieben war, ist mit einem Male die Welt ein helles Grün und ein makelloses Blau geworden, über das der Abend sein Farbengewusel aus braunen und purpurnen Tuben zu werfen beginnt. Und ich hänge zwischen diesen Farben, ich bin losgelöst von Allem, ich fliege, ich bin schwerelos, ich bin nur durchglüht von farbigem Licht und nur durchrauscht von dem Gedanken an den gewaltigen Ball, der da wundersam im Raume fliegt. Ich fasse es nicht, es ist nicht zu fassen – aber es ist kein schmerzliches Entsagen verbunden mit dem ganz hellen Bewußtsein dieses nie zu lösenden Rätsels – denn je ausgemachter und sinnfälliger eine »Tatsache«, um so schwindeln machender ist ihr Rätsel –, es umkost und umschmeichelt mich vielmehr, es trägt mich, mein Leben kommt mir vor als ein unsagbar wohliges Schweben auf den ungeheuren Fittichen eben dieses Rätsels – ich schwebe, ich fliege, oh alle Welt: ich bin frei und schwerelos!

Ich bin nicht frei, ich bin nicht allein – allein in ihren Kobaltarmen, ihren schreckhaft flatternden Falterflügeln! Aber daß ich mit Menschen reden muß, daß ich ihre hohlen Stimmen hören,[9] ihre kriechenden Gedanken, ihre Gedanken ohne Klang! erdulden, ihren übel riechenden Atem, ihre ganze unsägliche Erbärmlichkeit und unheilbare Blindheit über mich ergehen lassen muß –!

Ich bin mir zu gut und liebe mich zu sehr, ich halte mich viel zu gerne an goldenen Zügeln, um über euch meinen fressenden Hohn zu gießen, ich beschmutze mich nicht, ich werde nicht rasend und dionysisch rabiat, aber –: zwischen zwei Propellern, länglichen, an ihrem oberen Ende zugespitzten und bläulich durchschimmernden Faunsohrmuscheln sitzt ein kleines Gesicht, dessen niedere Stirne jäh hinter den Brauen zurückflieht, dessen Vogelaugen wasserhell und dumm wie Wasser sind, dessen Mund wie ein plumper Kerb in das braunrote Fleisch gehauen und dessen Nase wie ein grober Klotz in die ganze Nullität hineingepflanzt ist. Aufgesetzt hat sich dieses Ding, so leicht und hohl, daß ein kleiner Knabe mit ihm Schlagball spielen könnte, auf einen winzigen Rumpf; der hat seine Verwachsenheit in Fischbein und starken Stahl gezwängt und wird von zwei Zündhölzern getragen, deren Mechanismus sich in einer grotesk ängstlichen Agrandezza darbietet, die Ähnlichkeit hat mit der eines automatisch betriebenen Kinderspiels. Aber seine Stimme brüllt und seine Verdauung ist schlecht und sein Geist weiß nicht, ist er Wind oder ein wirklich-unwirkliches Vakuum; es fließen ihm wohl Bilder und Klänge zu, aber sie rufen kein Echo wach und malen kein Bild und verlieren sich spurlos in dem gähnenden Raum. Doch ein Winkel ist in dieser Höhle, der hat sich in der gähnenden Hohlheit, Taubheit seiner Jahre ausstaffiert mit Paragraph und Paragraph und hat eine Drüse wachsen lassen, die ein Odeur sekretiert von Furcht und Stolz – von Stolz? Von Furcht und Stolz. Und komprimiert und symbolisiert ist dieses, der klägliche Leib und sein ihm genügender Geist, in einer braunen Warze, die ängstlich und eindringlich unter dem linken Auge sitzt, denn – siehst du sie an, so gerät der Wurm in Wut. Aber er hat sich in blaurotes Tuch verkrochen und hat dank dessen die Narrenerlaubnis, seiner Wut zu frönen, und er frönt ihr rückgratlos und gern, aber er nennt es strafen und erziehen – strafen, o heiliger Aristoteles, das Nichts setzt sich in Positur! –, wir haben es ihn so gelehrt, wie wir ihn daran gewöhnt haben, in seiner Verwachsenheit die Krone zu sehen der Kraft, in seiner Steifheit die Höhe der Eleganz und in seiner granitummauerten Borniertheit[10] das Privilegium souveräner Verachtung der einfarbig gekleideten Intelligenz. Er kommt daher ein buntes dummes Tier, aber ein gefährliches Tier, das instinktmäßig die ihm gegen übertretende Überlegenheit fühlt und sie dann ankollert – ein Truthahn! Vorsicht! ein Truthahn! Und in erotischer Beziehung ist er nicht intakt, er ist ohne Frage ausgepichter Onanist, denn er vermeidet das Adjektiv »geschlechtlich«, er übergeht es beim Vorlesen und wird rot dabei, das vierzigjährige Kind mit den Propellern und Verschönerungsbarteln. Er kriecht vor seinen Vorgesetzten wie ein Pinscher, der alsobald geprügelt werden soll, aber ist er mit seiner grinsenden Kompagnie allein, so sieht er ihr Grinsen nicht und kreuzt die Arme und schlingt den Mantel um sich, er stellt die Beine breit, der Zweiseitengewehregroß, der Napoleonknirps, die Unfähigkeit und Minderwertigkeit und Mannlosigkeit – sogar zum Studium war er zu dumm, so wurde er Offizier, der Schwarm der Frau, vielmehr die unerschütterliche Einbildung des Schwarms der Frau, die Stütze und der Stolz des Staats und seiner Untertanen zielbewußter Erzieher, der Edelmensch, das Rassetier, der gott-und königstreue Pfau, das wandelnde Schimpfwort und der stolzierende Paragraph, eines Hohlraums Strafgewalt und der nicht mehr nur zum Lachen reizende Bramarbas, der inkarnierte – deutsche Pöbelgeist! Daß ich nicht allein sein kann! Daß ich mit symbolisierenden Warzen, mit priviligierten Truthähnen leben muß! –

Brauner fließt das wuselige Wolkenöl aus den himmlischen Tuben und es schauert und friert den schwindenden Tag; kalt und grünlich schimmert seine wasserblaue Haut und knisternd schließen sich die Lechfelddisteln – Timbuktu! gesungen habt ihr den Namen oft, Timbuktu! Tombuktu!

Salz für Gold und Salz für Sklaven und Salz für Elfenbein und ein stolzer Strom von Süd nach Nord, von Nord nach Süd, Sudan und Sahara tauchten um dich ihre Klingen und Speere in Blut, im fernen Konstantine und Mogador machte dein Name die Augen leuchten – und doch nur ein Haufe gelben Tons, der sich um drei plumpe Turmobeliske legt, über die der Wüstenwind, der Wind aus der ewigen Wüste, den Sand in grauen Wolken treibt, in denen die Sonne zusammenschrumpft, um dann wieder aus ihnen hervorzuglühen wie das blutunterlaufene Auge eines zornigen Elefanten! Timbuktu! Dschingere-ber! Es singt der Sand und unter der blutunterlaufenen Sonne glüht dein Turm wie eine reifende[11] Banane, bräunlich-gelb wie eine Banane aus Monrovia, wie ein ins Ungeheure gewachsener Opal. – Es schneite, als man deinen Freund begrub, und es schneite, als du nach acht Wochen kalter Einsamkeit zum letzten Mal aus deiner Baracke tratest. In grauen Geschwadern, in ewigen Ketten trieb der Sturm die kugelnden Wolken über dich und leise pfeifend und klatschend – es singt der Sand! – umtanzte umschlug umwirbelte dich der Schnee. Drei Schritte weit flackerte dein Auge, dann ward Alles weiße Unendlichkeit. Die fraß sich in dich und biß sich in dich und verbrannte zischend dein Herz – es singt der Sand! – Und dann wird es wohl wieder geschneit haben, als man auch dich begrub und kopfgroße Stücke grauen Muschelkalks über euch häufte – – bis an die Knöchel sinken die Stiefel ein und die Stapfen, die sie nachlassen, sind grau und schimmern von der Seite gesehen ziegelrot auf dem glitzernden Tuch; einen Ring bilden sie um das schwarz-graue Viereck, das die ekelhafte contradictio in adjecto des militärischen Pfaffen mit drei leutseligen Worten beschmutzte, und laufen dann in einer melancholischen Serpentine zurück zu den Asphaltdächern, hinter denen gerade die Sonne herabgefallen ist – – Timbuktu! Tombuktu!

Gleich vier schwarzgrünen Bronzestatuen stehen die Thujabäume über dem einsamen Grab, düster à la Byron und voll ewiger Langerweile, und die grauen Muschelkalksteine unter ihnen schimmern bleich und weiß wie dicke Dinosaurierknochen. –

Nun habe ich wieder mein Werk getan und meinen Himmel voll Sterne genagelt. Aber ich mag die Sterne nicht mehr, denn ich will die Erde lieben und nur in Farben leben! Doch die Erde verfliegt und die Farben bleiben keine Farben mehr – was tue ich mit zitternden und ihr Zittern in Wellen forttragenden Atomen, die wieder nur Bilder und Klänge sind – verfluchter Kreis! Oder mache ich wieder den Desperadosprung: »Die Welt bin ich und mein fliegender Gedanke und außer mir ist nichts«? – Ich möchte nicht mehr einsam sein und Spinnefäden aus mir um mich spinnen, einsam grausam boshaft, wütend kannibalisch wie die Spinne in ihrem Netz; es sei denn, daß ich, wie die gekäfigten Spinnen der Sage nach einem Jahr Hungerns, zum Diamanten würde; aber mir widersteht der Asket und ich bin zu wenig kalt und klar für solche glänzenden Kohlen und kalten Schmuckschaustücke. Ich möchte sein wie ihr: ein unbewußter Trieb, der sich bewußt und wirklich glaubt und sich geborgen fühlt in allen[12] Pöbelgöttern – geborgen, gefesselt, denn drüben liegt der Wahnsinn und lauert der süße – Sprung in den Himmel! Aber – daß ich mit Menschen leben muß und daß es eben – Menschen von heute sind! Ein Stück meines Problems, ihr ironischen Sterne.

Ihr verkriecht euch, ihr laßt einen silbernen Schleier unter euch fallen und eine Brücke baut ihr unter euch, eine Hängebrücke von weißen Wolken, geradewegs über den Zenit eine Wogenwolkenbrücke, eine geschwungene Silberwolkenleiter? Ich will auf ihr wandern, ich wandere auf ihr, das Gewehr geschultert, mit weitem hallenden Schritt und in den Gliedern den schütternden Frost.

So wandere ich nun, und wenn ich zähle, so zähle ich: es fehlt nicht viel an dreißig Jahren – was bin ich nur? Ein Wolkensteiger mit dem ewig haftenden Blick in die Tiefe trotz der Erkenntnis der nie zu überbrückenden Entfernung bis zu dieser Tiefe. Ich sehe Farben und seltsame Klänge dringen zu mir und ich weiß doch, daß ich nie zu den Dingen, zu den spöttischen Malern und Sirenen-Müttern, gelange, von denen jene zu mir kommen. Warum kann ich nicht zu ihnen stürzen, warum kann ich nicht auf meiner Wolkenleiter wandern, ohne zu ihnen hinabsehen zu müssen voll kindlich-weiser, voll kindlich-törichter Sehnsucht? Und warum wandere ich allein? Es gibt so viele Wolkenleitern, hohe und niedere und solche, auf denen das Blut zu kristallenen Nadeln gefriert; aber sie sind einander fremd und laufen alle nach verschiedenen Winden; sie kreuzen sich wohl und wenn ihre Wanderer sich begegnen, so sehen sie sich wohl groß und mit einem traurigen Lächeln an und sie grüßen sich, aber sie verstehen einander nicht und gehen ihre Straßen weiter, allein und nie verstanden. Und sollten sie sich und ihre Schatten, denn auch ihre Schatten wandern auf ihnen ewig und ernst, auch die Hand reichen und auf dem schmalen Punkte stehen bleiben und ihre Glieder schmerzlich süß umeinander schlingen – sie kennen sich nicht und erkennen sich nicht, sie bleiben zwei Welten (mit undurchdringlichen Grenzmauern und reichen sich die Hände wieder und gehen ihre Straßen fort, allein und nie verstanden – – Hallo! die Leiter bricht und der Morgen braust!

Eine Mulde hat sich der Lech in den Kies geschnitten, der grimmige schäumende Narr und Umsonst, aber die zähere Zeit zwängte ihn ein und hat Gras und Enziane über sie geworfen: hier liegen wir, frierend, ewig wartend und flach auf dem Leib[13] wie hingemäht – wenn die Raketen fauchend in ihrem grünlichen Lichtschein über uns eilen und mit auffallend verkürztem letzten Schenkel ihrer parabolischen Bahn zischend zwischen uns niederfahren oder die Scheinwerfer mit unheimlichen Phosphorfingern über uns tasten und die fernen Baumgruppen aufflammen lassen in einem kalten giftigen Schweinfurter Grün, so pressen wir unsere Köpfe noch tiefer in das Gras, dessen schwerer Tau nun fast zu Reif geworden ist.

Die Sprossen der zerbrochenen Leiter – denn die Morgenkälte knickte sie wie Glas – sind herabgefallen und liegen leuchtend wie aufgehäufter Silberschutt am Horizont. Aber die Nacht formt sich einen Fächer daraus und hebt ihn und hält ihn abwehrend gegen die gelben und braunen Bänke, die langsam aus dem Osten klettern. Dunkler wird sie und drohend leuchtender und wölbt sich noch einmal über mir in ihrer verführerischen Majestät: bleibe ich in dir, halte ich mich an dich und flüchte mit dir blindlings in rauschende maestosos sostenutos? Den letzten Schleier ziehst du fort von den uralten Nägeln, die ich in dich geschlagen, den letzten Wolkenschimmer streifst du fort von deinem Samt und deinen schwarzen Sammetfransen und tiefer hängst du deine leuchtende Mondampel – aber stärker und sonnenbrauner wird der junge Tag, den Silberfächer reißt er aus deiner steifgefrorenen Hand und wischt dich fort wie einen heiligen Spuk. Die Elfenbeinrippen seiner zärtlichen Waffe färbt er rosenrot, Hörner und Zungen und drohende Papageienschnäbel schießen aus ihr hervor und stechen in die kopflos flüchtende Nacht, bis in einer stolzen Kugel rötlichen Goldes der Tag über die Nebellachen rollt, die sich schwer und trag über die Lechauen gelagert haben und aus denen die Baumwipfel hervorlugen wie Klippen alten Basalts.

Quelle:
Gustav Sack: Paralyse. München 1971, S. 9-14.
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