Das Heiligenbild

[14] Ich hatte es meiner geraden Figur und dem Teufel, der mich unter euch hat geboren werden lassen, zu verdanken, daß ich zu einer achtwöchentlichen Übung eingezogen war, und ich war glücklich, wie man in deutscher Vergewaltigung glücklich sein[14] kann, wenn ich zwischen Steinen und Wolken und Bäumen, deren Zusammenleben mir als Flachländer neuartig und verlockend war, eben diese Vergewaltigung vergaß.

Denn ich bin kein Patriot und kein Staatsbürger privilegierter Richtung, und bin Wanderer und Klausner und nenne mich euch gegenüber einen Kosmoaristokraten und stehe bewußt und selbstgewollt außerhalb jeder Massenvereinigung. Die Bürgervorteile und kleinen Faulheiten, die ich in dieser bestbevormundeten und schabloniertesten aller Pöbelherden genieße, sind mir aufgezwungen und verhaßt und sollten sogar in euren Augen kein Äquivalent sein dürfen für die Eingriffe einer brutalen Polizei, die in jedem »Untertanen«, auf den sie ihre feige Faust legt, sogleich den zukünftigen oder verkappten »Verbrecher« sieht, und eines Militarismus, der im Solde eines sinnlosen und plebejischen Mammonismus und eines von ihm angesteckten Junkertums sein Söldnertum bombastisch und feige in eine gottgewollte Notwendigkeit umlügt und seine Paragraphenmacht zur Vergewaltigung friedfertiger Tölpel mißbraucht, und dessen mit Nimbus umgebenes Subalternoffizierkorps in seinen »Untergebenen« das bequeme, weil wehrlose, Objekt unflätiger Wutausbrüche sieht. Ich möchte mein Leben, wie ich es heute sehe und es heute für lebenswürdig ansehe, lieber unter Wegelagerern leben als unter diesem Gesindel seelischer Kretins, deren Feigheit und gewollte Blindheit und faule Kriecherei vor atavistischen Hohlheiten zum Himmel stinkt. Vergleiche ich mich, meine nie wiederkehrende Einzigartigkeit, meinen Mut zu mir selbst, meine Verachtung euch gegenüber und meinen unzerstörbar darin begründeten Wert mit euch, die ihr vor religiösem Macht- und Geschäftstrug – einen Betrug, den jedes Kind durchschaut –, vor monarchischen Popanzen und gesellschaftlichen Verranntheiten, deren ungeheure Lüge kein Gegenstück in der Geschichte findet, demütig und eurer Lüge hell bewußt den Hut zieht, so würgt mich der Ekel, der Ekel, mit euch die gleiche Luft zu atmen, derart – – aber ich speie diese Wut nicht aus und ich lache dieses Lachen nicht, ich fliehe auch nicht vor euch und drücke mich schmollend in eine Grönlandecke, ich sehe fort und blicke traurig in meine Welt – – – Aber mein Leben rennt mir fort, auf donnernden Rädern rast es mit mir fort und ich habe nicht viel Zeit mehr bis zum Grab. Oh mein goldenes Leben, meine durstigen Augen! Oh mein heller Blitz in der ewigen Nacht! –[15]

Mein anständiger Antipode, falls Dummheit sanktioniert, ist aber der Korpsstudent, der heute schweißtriefend neben mir marschiert. Er ist so dumm; ihm ist alles und gar er selbst so klar und fest, so unzweifelhafte Wirklichkeit; er hat sich so selbstverständlich in sie eingefügt, wie man in einem Bau einen Ziegel zwischen andere fügt. Er sieht in unseren Institutionen die natürlichsten Notwendigkeiten, er sieht Segnungen in ihnen, ja er kennt Wahrheiten, religiöse politische philosophische, absolute Wahrheiten, bezahlte gelehrte gepredigte – gedruckte Wahrheiten! – Als ob nicht jede Wahrheit, was wir so Wahrheit nennen, in dem Augenblick, in dem sie in der Form der von allen gebrauchten Sprache den Mund ihres Verkünders verläßt, zur Verzerrung, Zwei-, Drei-, Tausenddeutigkeit und Unwahrheit wird! Als ob sie nicht ein subjektiv gedeutet sein wollender, unverbindlicher Ausdruck eines augenblicklichen körperlich-seelischen Zustandes und Allgemeingefühles ist! Und erst gedruckte, Zeitungs-Wahrheiten! Die Zeitung ist die Kloake einer Zeit, das Sinnbild aber unserer Zeit ist die – Zeitung. – Und auf alles, was ich einwende, meint er ehrlich überzeugt und stereotyp: »Dös sein so Sprüch.« Ist es zu glauben, daß man so dumm, so bayrisch dumm sein kann, daß man eine solche Mauer im Kopf tragen kann, daß man nicht mit allen Fasern fühlt, daß man lebt! Ist es möglich, daß ihm die garnicht auszudenken ungeheure taumelnde Fragwürdigkeit des Lebens, sein ganz einzigartig Wunderbares nicht zum Bewußtsein kommt! Aber er wird ein braver Bürger werden und sein Diplomexamen machen, reisen und Kinder zu Staatsbürgern erziehen und, wer weiß! er wird reich werden – der Arme, der zu ewiger Armut Verdammte!

Ich widerspreche ihm nicht mehr, ich höre nicht hin auf ihn – oh! jetzt beginnt er zu fluchen, rastlos, ingrimmig: Sakrament! Sakrament! Da ducke ich mich und – suche mich von mir zu verlieren dadurch, daß ich mich dem ledernen Teufel auf meinem Rücken zuwende und ihn, der eben ein quälender Teufel ist, immer persönlicher, immer lebendiger, immer gedanklicher, immer unwirklicher gestalte – dadurch, daß ich ihn in meine Muskeln, in mein Blut, in meine Nerven aufnehme, ihn als ein Nichts, als die immateriellen Beziehungen körperlicher Dinge zueinander, als einen nur in meinem Gehirn flatternden Gedanken konzentriere. (Und hier freue ich mich wieder, den Punkt zu haben, um den sich Alles dreht: denn dieser Gedanke ist das im[16] Kontakt stehen irgend welcher vielleicht irgend wie chemisch veränderter Hirnzellen, und diese Hirnzellen und ihr gegenseitiger Kontakt, vielmehr das Gedachtwerden dieser Hirnzellen und ihres Kontakts, ist das im Kontakt Stehen irgend welcher vielleicht irgend wie chemisch veränderter Hirnzellen – – –) Aber ich gebe diesem nur durch mich und nur in mir existierenden Nichts die absonderlichsten Namen, immerzu immerfort, bis ich seinen ureigenen, seinen ewig prädestinierten gefunden habe, den, den die Leute gebrauchen. Da springt er aus mir und wandert neben mir zottig und braun, und ich bin von ihm befreit. Er redet mit mir, stoßweise, ein wenig atemlos und mit einer näselnden Phonographenstimme:

Daß du deinen alten Trick auch auf mich anwendest! Du objektivierst jedes Unbehagen und jede Wohligkeit, denn jede Wohligkeit wird zum Unbehagen, und läßt uns neben dir trotten wie einen interessanten Spuk. Haschisch, mein Lieber! Fürchtest du nicht – denn du bist dir selber zur Last, auch mit deinen Entzückungen, lügen wir uns nichts vor! –, dich eines Tages ganz in einen Spuk verwandelt zu sehen, der neben dir, der du nur aus glanzlosen Augen und hochbeinigen Stelzen bestehst, einhergeht und mit dir sein langweiliges Palaver hält? Denn ich langweile dich – – wir gehen ins Manöver, vierzehn Tage lang – hörst du?

Vierzehn Tage lang, bergauf bergab, in stillen Fichtenwäldern über großästiges feuchtes Moos, über schäumende Bäche, über vergrämte Moore müde entlang an schwarzen giftigen Teichen, und den Blick auf die Berge, bei Tage bei Nacht, unter Sonne unter Mond den Blick auf die Berge, und zu Füßen feuchtes Moos – aber am Biwakfeuer liegst du abseits in Reih und Glied und frierst und frierst und schnarchst dazu und ich, ich weiß nichts Besseres zu tun, als in die zuckende Flamme zu blicken und in ihr, kitschig genug, das Abbild meines Lebens zu sehen: eine zukkende Flamme und rings, oben, unten, kalte Nacht. –

Nach meinem Empfinden ein Bürgervergnügen – ich bevorzuge Schneepaläste, deren Wände die Nordstürme und deren Decken Polarlichter sind. Denn es wird mir die Welt zu organisch. Wohin ich sehe, grinst mir Leben entgegen, grünes, rotes, allerorten lungerndes Leben. Und das tut, als sei es die Quintessenz und das Extrakt der Welt, das stellt sich an, als ob es allein das Privileg des – Lebens hätte, das gibt sich, als sei es da, die Welt zu – fressen und zu – erlösen; wovon? von dem Fluch des Lebens![17] Das hängt einem ja zum Halse heraus! Ich denke, ihr werdet euch eures Lebens nicht mehr bewußt, ich muß annehmen, ihr habt es nicht, ihr wiegt es nicht auf der Hand, wo ihr vor lauter Leben nicht mehr den Kontrast und den Stein seht; ich postuliere, daß es für euch schon eine Erlösung sein muß, Brücken zu sehen, Maschinen, geschmeidiges wuchtendes hohnlachendes Eisen (statt dessen aber kriecht ihr vor eurem Eisen und euren Maschinen und macht, wie immer, eure Schöpfung zum Gott, der euch erdrückt und zermalmt). Ich, ich bevorzuge Schneepaläste und mag mich nicht belästigen lassen von dem Kannibalismus des Organischen. Es soll rein und frei um mich sein und immer kühl. Das Leben aber ist eine warme Brühe, es ist eine der groteskesten Verirrungen der Welt, eines ihrer kindischsten und unreinsten Fratzenspiele, das Leben ist das Plebejertum der Welt! – Und nur in der Vereinzelung ist es erträglich, vom Standpunkt der Ironie; denn ich empfinde einen angenehmen Kontrasteffekt in dem verlorenen Klumpen rotgefrorenen, voll magisterweiser Deutungen und zwergischer Weltverachtung vollgepfropften Lebens, das sich wiederfindet auf unendlichen Öden, deren Dekken Polarlichter sind. Wir sehen die Welt so falsch, wir verpesten mit unserer Geilheit und Fruchtbarkeit und rücksichtslosen Gefräßigkeit und Pariaruhlosigkeit und unserem Dreikäsestolz ihren eisigen Hohn und ihre steinerne Ruhe und ihre vernichtende Gleichgültigkeit. Wir begehen die Ungeheuerlichkeit und machen die gesamte Welt restlos zu einer Erscheinung in uns, zu einem organischen, der Verdauung analogen Prozeß. Aber im Schneekristall und in einer Zwillingsstreifung des Plagioklas steckt ihre ganze Vornehmheit, ihr ganzes ironisches Was geht's mich an! gegenüber der Form und ihr souveränes Festhalten an der einmal für immer erwählten; in der Amöbe, dem schleimgrauen Ich weiß nicht, was? ihr Plebejertum, ihre unreine hungrige, durch nichts als eben diesen Hunger motivierte Angst – das Leben ist die leibgewordene Angst –, ihr albernes verbohrtes zwecklos gewordenes Kleben an der Form und ihr peinlicher Wechsel, ihre haltlose Nachgibigkeit gegenüber der Form. Dieses Leben, um zu fressen, dieser sich selbst verdauende Darm, diese ewige Diarrhöe! Dieses heimliche Stehlen der Wurzelfaser am Stein, diese Pygmäendiebssaugnäpfe des autokannibalistischen Größenwahnwurms! Aber das Organische ist ein schnell verschwindender verschwindend kleiner Einzelfall, eine kleine Verirrung, ein dunkler Punkt,[18] der Stein ist die Welt und erst im Stein liegt ihr Abgrund und ihre furchtbare Tiefe. Oh, wenn ihr einen Begriff hättet von der Vornehmheit, der sarkastischen Aristokratie des Gesteins!

Er hatte sich außer Atem geredet und merkte es und ward mürrisch darob und schwieg, und stapfte neben mir mit seinem ledernen verkniffenen Gesicht, seiner breitbeinigen staubbedeckten Landstraßenfigur. –

Ja, ich habe Heimweh nach Schnee, nach Tod und Nordlichtfransen.

Als ob es Farben und Formen, unabhängige Dinge in Raum und Zeit gäbe! Als ob dieses nicht alles nur ein Bild im Organismus wäre, der als solcher wieder nur Bild und Gedanke und Traum ist. Das Organische, wenn ich dir denn nachgeben will, ist der geheimnisvolle Schacht, in dem der Gedanke niedersteigt zu dem ebenso geheimnisvollen Stoff – aber nein! was kennen wir denn anderes von der Welt als eben nur ihre gedankliche Seite! Wenn es überhaupt andere Seiten an ihr gibt.

Hoho! Zum Purzelbaumschlagen! Zum Einsperren! Da haben wir ihn, den Einschachtelungsclown, den Zirkelnarren! Der Idealist! Da trottet er hin im Gleichschritt, im muffigen Massenschritt – der Transzendentalist! Als ob erst das Suchen hinter dem »Schein« der Dinge rechte Tiefe wäre! Als ob es nicht die Tiefe eines Schattens wäre, die man hinter der Tiefe der ganzen vollen lichten Welt noch sucht! Ich will es ja einräumen, (daß die »Dinge« vielleicht nicht nur so sind, wie sie uns erscheinen; aber ganz gewiß sind sie auch so, und nur dieses Auch so geht uns an, das andere ist Spuk und ein Locken zum Irrsinn; was wir in Urteilen, deren Richtigkeit sich bewährt hat, erkennen, das sind die uns zugänglichen Seiten eines wirklichen Seins und Geschehens. Aber du – – soll ich es dir verraten? Es ist der Neid des Organischen, die Rache am Stein, am Schnee, am Tod und an den Polarlichtfransen! Die Sklavenrache! Der Sklavenneid! Das Parasitenressentiment!

Du redest mir zu laut, du redest wie die heutigen Rezensenten, du redest mir zu viel in Worten um der eigenen tönenden Worte willen. Du größenwahnsinniger Schwätzer, du Igel, du Hohltopf-Hohlkopf und Positivist und billiger Wortejongleur! Du – Mensch von heute! Du – Tornister!! Laß uns nachdenklich sein. Das gleiche Atom, das in der Schneeflocke niederfällt oder im Dolomit des Marmolata schläft, kreist in der Buche, die dort zwischen[19] den Fichten schon gelb werden will, und in mir, dessen Auge ungewollt auf ihr haften bleibt; derselbe Zauber, der die Nordlichter an den Himmel wirft, begleitet jeden Gedanken in mir und jeden Schmerz – –

Still! Ihr könnt keine Gegensätze sehen; ihr versteift euch immer auf Übergänge und Anklänge und Ähnlichkeiten und behauptet sogar, Gleichartigkeiten sehen zu können – faule Kompromisten.

Dann schwieg er und kniff den Mund zusammen wie eine Ledernaht. –

Ich weiß ja, daß ihr Narren es fertig gebracht habt, euch als den Sinn der Erde – als den der Welt, wagt ihr nicht mehr – hinzustellen; ich weiß ja, daß der femininische Idiotismus: Die Größe aller wahren Kunst und Religion liegt darin, uns unser Menschenschicksal als Teil des Weltgeschicks erkennen und empfinden zu lassen, bei euch tausend Jünger und Ohren, lange andächtige Ohren gewonnen hat – als ob ihr euren weichen Krimskrams identifizieren dürftet mit dem ehernen Gang der Gestirne! Ich weiß ja, ach! was weiß ich nicht – –

Und hier begann er zu stolpern und unwohl zu werden und lief an den Wegrand, wo er sich erbrach. – Dann marschierte er wieder neben mir und kniff den Mund zusammen ingrimmig wie eine Ledernaht. – –

Du, es ist etwas Furchtbares über uns, in uns, unter uns – die Welt, das Leben, der Stein, der Gedanke, das sind – Schutzwälle, bebend gegen das Furchtbare vorgehaltene Schilde. Wenn das an einem Morgen die Schilde fortrisse und wir ihm gegenüberständen – es ist etwas Ungeheures über uns, unter uns! Wenn nur die Welt aus dem bestände, was wir in Worten nennen – komm, daß ich es leise sage: sie hätte nicht das Recht zu sein.

Das mag ich eher hören und gelten lassen – etwas Furchtbares in uns, unter uns, aber nichts Heiliges, Mystisches, Metaphysisch-Muckerisches hinter den Dingen! Aber was nützt solches Wissen, dero Bücherbinsenweisheit und Abseitergegrübel? Denn ihr könnt es nicht stündlich in euch tragen, es würde euch eilends den Boden unter den Füßen rauben, daß ihr kopfüber in die Schwerelosigkeit und den Wahnsinn purzeltet. Es genügt und ich bin es zufrieden, wenn ihr einmal im Jahre fühlt, daß ihr über einer Gähnung wandelt, unbewußt, blind, wie die Kinder – oh ihr Kinder! Und wenn euch nur einmal im Leben der Gedanke[20] durchhaut, daß die Brücke, auf der ihr steht und Jahrmarkt spielt, dünn ist wie Glas – –

Du – da du doch nach Art alter Positivisten und Journalisten mit mir einen Seitensprung ins Transzendente tust – und es ist noch etwas anderes Furchtbares –: ich fühle das dünne Glas ewig unter mir und mir wird es hohl und schwerelos – ich werde eines Tages wahnsinnig sein.

Da kniff er wiederum den Mund zusammen und zog ihn schief und nach einer Weile kicherte er:

Dann wird ein Anderer neben dir trotten, im Gleichschritt, im Massenschritt und auch im Bette vielleicht liegt er neben dir und grinst dich an und die Welt des Wahnsinnigen ist so wirklich wie deine von heute und so wahr wie deine von gestern: du schaffst sie ja so gut wie jene, nicht wahr, mein Freund? Aber warum denn gleich wahnsinnig werden? Sieh, da haben sie ein Haus gebaut, einen weißen Turm daneben gestellt und auf den ein schwarzes Schieferzwiebeldach gesetzt; rings um das Haus begraben sie ihre Toten und um Haus und Turm und bunte Gräber haben sie eine Mauer gezogen so, daß im Sommer, wenn es stark geregnet hat und das Barometer noch mehr fällt, das braune Leichenwasser aus den Fugen quillt. Und wer hier wirkt und Seelen tötet und Stunde um Stunde intellektuelle Purzelbäume schlägt in diesem zweimal, dreimal Leichen-Gotteshaus – da steht er und ist schwarz und rot, schwammig und fett, seine Köchin neben ihm und die ehrerbietigen Honoratioren – die, deren Seelen er schon totgeschlagen. Sie sehen auf uns herab, erhaben, ein wenig mitleidig, auf unseren Staub und Schweiß – sieh, wie ihre Weiber die Nüstern blähen! Und die Alten blicken unsere Spaten an und schauen nachdenklich zu, wie ihr allzusamt dahertrottet krumm und gebeugt, gleicherweis ein Fragezeichen, als ließen euch die Staubhieroglyphen auf den Stiefeln eures Vordermanns keine Ruh, aber alle sehr bei der Sache, beinahe ein wenig bang und begeistert, als wollten sie gleich Hurra! schreien, wenn sie in die schwarzen Mündungslöcher unserer Gewehre äugen. Und wenn der feiste Töter und Taschenspieler da oben eine Bemerkung macht – denn ein Pfaff ist für alles kompetent –, sind ihre Gesichter gespannt und sie lächeln verständnisvoll und ehrerbietig stupid – wenn der nicht wahnsinnig werden sollte! Wenn dieser zweifache, dreifache Verwesungspriester nicht Grund hat, wahnsinnig zu werden! – Aber sein Gewissen ist schwarz wie[21] sein Kleid und tot wie seine Herde, seine Fühlhörner sind kürzer als wir ahnen, aber sie reichen dazu aus, um ihn wissen zu lassen, daß er in stündlicher Lüge lebt, in stündlichem Selbstbetrug; sein Ernst ist eben gegenüber dem unseren wie eine Seifenblase, die an einer Mauer zerschellt. Unser lustiger Ernst und unsere schmerzliche Lustigkeit, unser – ungeheurer Ernst, der – bringt dich um! Weiter weiter, wir gehen ins Manöver, mein Freund.

Auf staubigen Straßen, über Stoppelfelder, über vergrämte Moore entlang an schwarzen giftigen Teichen – hoppla! stolperst du, mein Kamerad?


* *

*


Wir liegen im Quartier und ich und der arme Korpsstudent sind einquartiert bei einem Krämer, dessen Haus am Markt ist bunt bemalt und voller Blumen so, daß die kopfhängerischen Fuchsien und knalligen Geranien die niedrigen Fenster noch niedriger scheinen lassen. Er empfängt uns draußen vor der Tür, den Bleistift hinterm Ohr und freut sich unserer Freude über das saubere Quartier. – Es ist Zapfenstreich geblasen und der Tornister liegt auf dem Flur und schnarcht, leise, rhythmisch, es liegt ihm noch der Marsch im Blute; aber mein Bett ist weich und ich versinke in ihm, als falle ich in warme Brunnen oder richtiger in vierzehn Mädchenarme, und breitgestreckt, die Arme lässig hinter dem Kopf verschränkt, auf weichen Mädchenleibern durchdenke ich den verflossenen Tag.

In der Nacht, windig und kalt, in welcher der Wind die Wolken aufschlitzte und mit den hervorbrechenden Regenschauern wie mit Birkenbesen über die Stoppeln fegte, hatte ich Posten gestanden, auf einer Höhe, neben einer überflüssigen Fichte. Es war still in mir, niemand sprach mit mir, ich empfand weder Regen noch Kälte und ward mir wie nur im Traum bewußt, daß zuweilen der blanke Mond eilends wieder hinter die Wolken flüchtete. Bei einem Gestorbenen, der mit aufgerissenen Augen in den Himmel starrt und auf dessen Retina der Nachthimmel sich gelb und grau und blau wie im Leben malt, muß es nicht ganz anders sein. Nur daß ich eben mir meines Sehens alle Stunden drei Male und dann wie im Traum bewußt ward; in der Zwischenzeit war ich gestorben, empfindungslos, ein Gras, ein Baum wie die anderen[22] Menschen. Oder auch: meine Haut hatte sich gedehnt, riesenweit, und war durchsichtig geworden und auf ihr malten sich wie auf öldurchtränktem Papier der Mond und die Wolken, meine dösende Silhouette und die überflüssige Fichte; auf einer ungeheuren Kugel und aufgeblasenen Schweinsblase, mit der man dir Faschings um die langen Ohren schlägt, waren sie impressionistisch mit Strichen und dicken Klecksen aufgemalt; und alle Stunden drei Male tippte ein Finger an diesen im Raume aufgehängten Pergamentenball, daß er zuckte und leise vibrierte: dann eben ward ich mir meines Sehens bewußt. – – Als aber der Morgen zwischen Tag und Nacht seinen orangefarbenen Gedankenstrich am Osthimmel zog und die Kälte mit einem Male wie durch einen Riß ungehindert vom Himmel fiel, sah ich wieder die Welt und erkannte mein Ich wieder, mein nie zu fassendes, ruhlos gespensterndes, ich erkannte beide, die immer eins und ewig zwei sind, wieder im Anschaun meiner Welt und konnte wieder zu mir reden. Denn über Nacht hatte es in den Bergen geschneit und der von allen Winden reingefegte Himmel überzog sich bräunlich rot und hing wie die von einem unglaubwürdigen Irgendwo spöttisch hergeflatterte Seligkeit über dem Schnee und der grummetgrünen Ebene, ihren weißen Türmen und schwarzen Fichtengruppen und ihren zwanzig nebelkochenden Schluchten, leuchtend über den Vorbergen, die Kopf an Kopf wie wüste schwarze Berberlöwen das selige Gebirge schirmten. Das sickerte und drang und wuchs, wuchs immer eindringlicher und stürmte mit immer süßerer Leidenschaft in mich, das zog mich immer höher, immer näher mitten hinein in seine braune Morgentrunkenheit, bis ich plötzlich meiner harten Einsamkeit wieder gewahr wurde und zu taumeln begann und mich gegen das Furchtbare wehren mußte und nach den – Namen der Bergspitzen fragte und traurig wurde bis zum Tod. Denn ich stehe noch auf der Brücke und noch manche Gott- und Muckernachklänge brummen verführerisch in mir fort: ich tauche noch zu gerne mystisch unter in das All und verliere noch immer zu gerne mein Ich. Aber kein noch so intensives Welt- und Allgefühl sollte in mir den Wert des Bewußtseins meiner umschlossenen Einzigartigkeit und meines Alleinseins mehr aufwiegen dürfen. Noch taumele ich oft zwischen der Wortwelt der Menschen und einer abstrusen atavistischen unio mystica. Es soll klar um mich sein und rein: Ich und die Wirklichkeit, die ich raubend in mich ziehe[23] und forme und genieße. – Aber nun – konnte ich wieder zu mir reden. Mit einem Male fangen die Schluchten an überzukochen, sprudelnd wie siedende Milch und gelöschte Kalke, die Berberlöwen beginnen zu fauchen und ihre Nüstern zu blähen und über dem Karwendel kriecht eine lange Wolke wie eine Riesenwegschnecke; da wirft der Tag die Sonne wuchtig wie einen Ball ins Land, ein Zittern geht durch die Luft und die Wolkenkephalophore färbt sich rot wie mit dem Safte der Purpurschnecken von Es Sur und kriecht träge, unendlich träge über die Berge und bedeckt sie mit bläulichem Schleim. Und nun währt es nicht lange und der Rauch der Schluchten und der Atem der fauchenden Berberlöwen flattert grau und zerrissen über die Ebene, bleibt hier an einem Kirchturm hängen und verfängt sich dort in einer Fichtenhöhe, und als die Sonne den ruhlosen nutzlosen endlich aufgetrunken hat, stehen die Berge da fern und fremd wie blaue Schatten – es ist heißer Tag und wir sind schon lange wieder auf staubigen Straßen, die sich wie weiße Schlangen in bösen Krümmungen von Hügel zu Hügel winden.

Als wir einige Stunden marschiert waren, mißmutig und in verbissenem Schweigen, begann mich das Bild eines schwangeren Bauernmädchens, das mich am Morgen zwischen ihren patzigen Stockmalven und Dahlien angelacht hatte, zu belästigen. Meine Gedanken hafteten wie Kletten brünstig an der prallen Rundung ihres Leibes und betasteten derb und hungrig ihre schweren Brüste und die ganze groteske Gestalt; und nun wandelte sie neben mir, schwerfällig und hinhaltend, als warte sie auf die Stunde, mich in den Graben zu ziehen. Ich konnte nicht mit ihr reden und meinen Spott mit ihr treiben, obwohl sie schon aus mir gesprungen war und neben mir ging, ich sah fort von ihr und ward wütend auf mich und begann aus blöder Verzweiflung mit dem Korpsstudenten zu plaudern, aber nach zwei Minuten hatten unsere Gespräche und seine Gedanken ihre Brettermauer erreicht, sie liefen noch ihren Weg zurück und fielen dann um faul und tot. Da wandelte sie wieder neben mir und trug ihren Leib, und das Gras im Graben ist hoch und heiß und die Luft steht still und brennend über den Stoppeln und baut schwüle Grotten und lüsterne Lauben – bis der Tornister von mir springt, stolpert und im Stolpern die Hure in den Graben wirft, wo sie nichts mehr ist als eben eine Hure und ein ungewaschenes Weib. Dann stapfte er weiter neben mir.[24]

Sieh! von der habe ich dich nun befreit; ein Teufel schlägt den anderen tot. Aber – – he! bist du vielleicht verliebt? Weißt du, wie die Schwätzer, die veilchenblauen Träumer und samtenen Gefühlsjongleure? Das ist mir eine gar köstliche Sache! Man heißt es das reine Glück, den Hauch der Seligkeit, das tiefe Untertauchen in den Rausch der Dinge und das Ahnen einer Unsterblichkeit, und es ist doch das pure Plebejertum und die Schamlosigkeit katexochen. Und merke, weniger die Liebe, aber das Dulden, geliebt zu werden. Nicht die Liebe, die springt aus dem Fleisch, das ich soeben in den Graben warf; eine angenehme tierische Sache, die sich feige umlügt in die stupide Adoration eines Ideals, seines Ideals, im Grunde seiner Selbst; man kann sie als zwiefache Belästigung definieren. Ich habe im Grunde nichts wider sie, nur lüge man sich nichts vor und wolle nur das pralle Fleisch. Aber das Dulden, geliebt zu werden! He! wirst du vielleicht geliebt? Ich meine, nimmst du die Liebe eines Anderen entgegen, ohne daß dich ihre Komik zum Lachen und ihre Anmaßung zur Empörung bringt? Denn in Käuze deiner Art verliebt sich mancherlei – eine tiefe Melancholie, eine blanke Ironie und ein weich-kluges Gesicht, ein dichtes Haar, in dem man zausen kann und ein robuster Leib! Aber kannst du es vor dir verteidigen, geliebt zu werden? Bist du – klein genug, geliebt zu sein? Willst du wirklich in den Staub gezogen werden? Mit blutigen fleischigen Tatzen heraus aus deiner stolzen Einsamkeit?

Denn – Wasser auf deine Muckermühle – die Liebe ist der größte in den Staub Zieher, weil sie der gröbste Verwirklicher ist. Deine Gestalt, dein Haar, dein helles Auge, deine Stimme – oh deine Stimme! – das ist und ist in ihren Augen unbestreitbare unbezweifelbare Wirklichkeit. Aber du willst nicht wirklich sein, du willst nicht nur aus Knochen und Nerven und feiner Haut und einer lieben, ach! wie guten Seele bestehen, du magst nicht nur eine angenehme Umhüllung deines Geschlechtsapparates sein; denn du willst deine zu siebentausend Deutungen lockende Undefinierbarkeit heilig halten, heilig wie deine Einsamkeit! Einsam und rein! Und tapfer deine Fragwürdigkeit hochgehalten! Nicht in den Staub und die Wahrheit, in das schwüle Fleisch, in den üblen Geruch der Masse, nicht wirklich und plump wesenhaft, Frage und Fragwürdigkeit – meinthalb kokette – mußt du sein und leuchtender Abgrund – es muß dich empören, geliebt zu werden! – – Es erübrigt sich, daran zu erinnern, daß die Frau[25] nicht uns liebt, sondern ihr irgendwie verlogenes, überliefertes, irgendwie aufgezwungenes Ideal des sie vollendenden anderen Geschlechts, dieses Ideal, in das sie das Wenige, das sie von uns weiß, d.i. das Nichts, das sie von uns weiß, notdürftig hinein preßt und lügt. Und wenn du ferner in Erwägung ziehst, daß die Frau, wie unnötig zu beweisen, in intellektueller Beziehung inferioris generis ist, sie ist ausgesottenster Philister und Spießbürgerin trotz ihres exaltierten Getues, trotz ihrer feinen Wildheit, trotz ihrer Unbezähmbarkeit, – ihre Liebe berührt dich nicht und du steigst von dir herab, um dich deinem Zerrbild anzunähern, um in eine Pfütze zu platzen; es muß dich empören, geliebt zu werden! – –

Als ich gewahr wurde, daß der Geschwätzige schwieg, sah ich, daß er neben mir auf einem Hügel lagerte, auf einer Hügelweide, deren Klee- und Thymianbewuchs würziger duftete als vor einem Jahr auf den Heiderücken Holsteins. Und je länger wir hier lagen, desto weiter rückte ich von der schnarchenden Masse fort, bis ich allein und abseits mich auf die braunen Zottelglieder meines Weggefährten bettete. In wirrem Durcheinander sind die Hügel und fichtendunklen Täler rings zur Ruhe gekommen, ein grüner Garten ungeheurer Maulwurfshaufen, zwischen denen die Sonne an blauen Seilen wie ein riesiges Kohlenbecken hängt – Licht in der ewigen Nacht. Aber ich bin dieses Lichtes, dieses Harz- und Klee- und schweren Thymianduftes müde und sehne mich in eine andere Welt. Die Welt hat tausend Seiten und sieben hundert Möglichkeiten anderer Perspektiven, ich möchte eine andere leben als die, in der ich Fremdling und einsamer Wanderer und ein irrender Abenteurer des Stolzes genug gewesen bin – wie bin ich müde! –

Still! und knurre nicht! Habe ich gesagt, daß ich den Dingen in Herz und Nieren sitzend eins mit ihnen mich fühlen möchte? Ich wollte nichts als nur für eine arme Stunde andere Augen und andere Sinne und einen anderen Raum und eine andere Zeit. –

Aber nach einer Weile lief mein Weggenosse wieder neben mir und verspottete mich meiner Feigheit wegen, die in meiner Verlassenheit zwischen der brennenden Sonne und den heißen Hügeln über mich gekommen war.

Er hat wohl recht – mich herzugeben für ein verbautes und wurmstichig erbärmliches Holzgestell, das ein Weib mit den Bändchen und Fähnchen ihres Ideals verbrämen wird, um es[26] brünstig als ihren Popanz anzubeten! Und das nennt man nun – so ist eben alles vermiesquemt und verdreht. Soll man sich aber dessen stündlich bewußt sein und mit Pose seinen Fuß auf die Rücken von hundert erschlagenen Lügen stellen?

Siehst du! Aber man könnte auch auf diesen schillernden Lügen, wie auf seinen Trieben, reiten und auf ihnen mitten hinein ins Epikuraikum voltigieren. Aber dazu bist du zu dick und zu dumm, wer weiß? dazu bist du zu deutsch – das hilft dir nichts. Einsam, hart und stolz: du kannst nicht umhin und mußt den Stein protegieren; schreibe ein Sonett auf ihn, es lohnt sich schon, und darnach dadurch gondelst du langsam über ihn ins Nichts. –

Wie der Dampf aus den Nüstern eines Drachen quillt der Staub an der Spitze unseres Zuges hoch und bleibt hinter uns in einer gelben Wolke unbeweglich auf der Straße stehen, nachdem er dicke Krusten auf unsere Lippen gelegt und mit zähen körnigen Pflastern unsere Augen und Nasen verklebt hat –


ei warum? ei darum!

ei bloß wegen dem Tschingterassa bumbterassa – –


Und dann waren wir ins Quartier gekommen. –

Nun wird sich draußen der Himmel über mir wölben, kalt und stolz, und ich habe nichts, womit ich mich gegen ihn wehren könnte, als das, das ich in mir trage und dessen Namen ich nicht kenne und von dem ich nichts Anderes weiß, als daß es etwas unvergleichlich Tieferes und Stolzeres ist als alle Sonnen und Nachthimmel.

Einen Brunnen höre ich rauschen, wehmütig und in seiner glucksenden Wehmut sich genug, und die Straßen sind winkelig und eng, ihre Häuser weiß und bunt bemalt und von ihren Galerien und Erkern hängen blaue und rote Blumen zwischen dickem dunklen Grün. Wie winkelig diese Straßen sind und wie der Mondschein in ihnen Zickzack geht und von toten Tagen träumt!

Spuk und Traum. Wenn der Furchtbare unter uns wollte, daß dieses Alles, Gassen und Blumen und Himmel und Monde, verschwände, so würde er es fortwischen, wie wir unsere melancholischen Gedanken verscheuchen. Aber er will es noch nicht, er spielt noch ein wenig mit seinen Bildern und Winkelstraßen, lustig traurig – ein weißer Bajazzo.

Wie unnötig das ist, wie unnötig deine Lustigkeit, deine Traurigkeit[27] und du selber, wie über die Maßen unnötig! Es liegt keine Nötigung vor, zu sein; denn sonst wärst du nicht der Eine stolze Bajazzo. – Wie doch das Ding an Sich und die Eindeutigkeit und Einheit der Welt in einen Narrenwitz ausläuft! Ein Ding kann nur immer dadurch bestehen, daß es durch ein anderes bedingt wird; denn »es hat seinen Grund in sich« heißt soviel wie: der Schnee ist weiß weil er weiß ist. Du mußt immer erst zwei sich bedingende, sich gegenseitig schaffende Welten setzen. Es sei denn, daß eine transzendente Kausalität anthropomorpher Unsinn ist, es sei denn, die Welt wäre zum Vergnügen da und zum Spaß, zur Freude wäre sie da und zum lachenden Wohlgefallen und zur Lust an sich. – Und daß du nicht schläfst! Daß du dein starres Auge immer weit aufgerissen hältst! Trägst du ein Leid und magst die Träume nicht und willst dich im ironischen Spiel, zu dem wir dir gerade gut genug sind, vergessen, dich – erlösen, armer Bajazzo?

Aber stückweise, als nähme eine Riesenhand gelassen Häuser und Straßen fort, verschwand der Mond und Spuk, und es war, als senkte mich wer an starken Tauen tief in den Brunnen des Nichts. – –

Nach einigen Stunden, nach einigen Sekunden, denn das Nichts und der Schlaf auf Mädchengliedern ist ohne Zeit, fand ich mich wieder auf einer steinigen Öde, auf der gruben abenteuerliche Wesen ein Grab. Sie knieten und gruben mit kurzen Spaten, und wenn sie sich erhoben, um den Schweiß von ihrer Stirn zu wischen, so waren ihre Gesichter alt und grau und voller Falten, voller Falten, die die Enttäuschung tagaus tagein und die endliche Hoffnungslosigkeit in sie geschnitten hatte. Und ihr Leib bestand aus nichts denn aus einem grünlich schillernden Magen mit verdoppelten oder verdreifachten Gliedmaßen und dem ins Groteske angeschwollenen Zeugungsapparat. Als sie aber das Grab so tief gegraben hatten, daß ein Kind sich in ihm hätte verbergen können, legten sie ihre Spaten beiseite und hinkten und humpelten schwerfällig fort und kehrten mit einem offenen Sarge zurück, in dem die Leiche eines riesigen Wurmes lag. Megascolides australis! murmelten sie und senkten ihn hinab und baten mich, die Grabrede zu sprechen. Und ich hielt damals jene Rede über den Regenwurm.

»Nein, ich meine nicht jenen speckweißen Darm, jenen mit tausend Mäulern, mit seiner ganzen Haut fressenden blinden tauben[28] Schlauch, der in den eitergelben Hautgeschwüren des Rindes oder eines Rehbocks schmarotzt, um sich von dort aus schillernd wie angelaufener Stahl und leuchtend wie der unwirkliche Spuk des zerteilten Lichts zu Tänzen und Nektartränken und Liebesspielen in die Luft zu werfen, – das ist mir viel zu dumm – – das ist mir viel zu dumm, meine arme Seele!

Jedoch der Regenwurm, der erdefressende Wurm –! Oder dieser australische Riesenwurm? fettig und speckig und meterlang? Ja? Ja, meine arme Seele, mein flügellahmer flügelgebrochener Flug?

Dann laß dir sagen: du bist durchaus nicht die speckweiße Made, die ihre Hülle abstreift und ihr Eiterlager verläßt und sich als schimmernde Imago, als blauer seliger Sommerspuk in den Äther schwingt und Nektar trinkt und Lieder singt und Liebe pflegt, – du gleichst vielmehr dem Wurm, dem erdefressenden, und wenn dein Leib verfault, so frißt man deinen Leib und wirft dich wieder zurück in die Erde als Kot, du mühselig Erdefressender und ewig Gefressener.

Alle deine brennenden Abendröten und brausenden Sonnenaufgänge sind ein Erdefressen und ein schmerzliches Dich-hindurch-Wühlen durch widerstrebenden Staub; alle deine Fliegerstunden in den purpurnen Strudeln des Glücks und deine Nachtstunden zwischen den Sargbrettern deiner Einsamkeit sind ein Erdefressen und ein sehnsüchtiges Dich-empordrängen-Wollen an eine Oberfläche, die dir versagt ist, denn die Sonne würde dich verbrennen, und ein Untertauchen-Wollen in eine schweigende Tiefe, die dir versperrt ist, denn die diamantene Härte und heulende Einsamkeit des Steins würde deinen Leib zerdrücken; alle deine heroischen Überwindungen und knirschenden Entsagungen sind ein Erdefressen und eine an widerspenstigen Erdklumpen sich offenbarende Dyspepsis; und alle deine Paroxismen einer tiefgründigen Erkenntnis, alle deine Gott- und Unsterblichkeitshalluzinationen und alle deine kindischen Convulsionen vor den Toren des ewigen Rätsels sind ein Erdefressen und ein widerwillig überdrüssiges Betasten und Wiederkäuen des ewig Gefressenen und Ausgeschiedenen und wieder Gefressenen; Erde bist du, Erde frißt du, Erde wirst du bleiben ewiglich; und der Kot der gefressenen Erde, den du an die Oberfläche trägst und den deine Brüder im Wurme weiter fressen, das sind deine Bücher, deine klugen Bücher – –[29]

Hoppla, stelle dich auf den Kopf und – tanze, meine liebe Seele! –«

Hoppla, stelle dich auf den Kopf und tanze, meine liebe Seele! murmelten sie und schaufelten die Erde in das Grab und machten dann zusamt einen Sprung, daß sie alle auf den Kopf zu stehen kamen. Und so begannen sie mit ihrem Kopf die aufgeschüttete Erde festzustampfen. Dabei wurden ihre Sprünge höher und höher und es sah am Ende wohl aus, als tanze über dem Grabhügel ein Schwarm abenteuerlicher Riesenmücken – wie man an Sommerabenden, wenn nach einem Regen die Sonne noch einmal scheinen will, die Mückenschwärme an den Wegrändern tanzen sieht.

Dann fiel ich zurück ins Nichts. –

Als ich des Morgens aufwachte, sah ich, daß ich unter einem Heiligenbild geschlafen hatte, einer Mutter Gottes und unter ihrem brennenden Herzen.

Da schüttelte ich eilends Traum und Spuk von mir und trank mit vollen Lungen die Morgenluft, die herb und klar unter dem golddunstigen Himmel lag.

Quelle:
Gustav Sack: Paralyse. München 1971, S. 14-30.
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