Berberitzen

[30] Der Tag war hell und heiß gewesen, jetzt lag ich in einem Bach nackt und kühl und ließ seine Wellen über mich springen. Forellen lebten in ihm und neben ihm standen die Erlenstämme vornehmgrau und rotbeerige Berberitzengebüsche; vom hohen Ufer aber breitete eine Eschenreihe hoch und weitausgreifend ihre Zweige über uns. Die Sonne hängt noch hoch und tastet zwischen den Blätterlücken hindurch mit zitternden Händen über mich und die springenden Wellen und die eisenbraunen Kiesel – eisenbraun: es werden Sphagnummoose oben zwischen den Bergen wachsen – die hundert Berberitzentrauben aber streichelt sie, daß sie durchscheinend werden wie rotes Glas oder längliche Tropfen ganz hellen Blutes – diese säuerlich kühlenden Blutstropfen! diese feine Vogelspeise!

Ich bin allein und die Leute sind fort, auch der Tornister liegt oben und macht ein verdrießliches Gesicht, ich bin allein zwischen Blättern und Früchten und Kieselsteinen und kalten Wellen, die da hinten aus einem Moos zwischen den Bergen kommen.[30] Oben auf der Höhe aber mitten in der Sonne sind die Feldküchen angelangt und rauchen und lassen von einem verspäteten Vormittagswind ihren schweren Speisegeruch in mein zärtliches Tal tragen, für einen Augenblick nur, dann stirbt der Wind – Bierfässer werden angefahren und mit hohlen Hammerschlägen angezapft, auf einem anderen Biwakhügel aber spielen sie Märsche und Operettengefühle – daß sie nicht in dir allein sein können und dich kostend genießen! daß sie immer schnell – als hätten sie Angst, als hätten sie Furcht vor deiner smaragdenen Zärtlichkeit – eine Mauer um sich bauen! eine Mauer von Wurst und Bier und Tschingteramusik!

Als die Sonne hinter die hohen Eschen hinabgeglitten war, begann über den Bach hin zwischen den grauen Erlenstämmen und gelbrindigen Berberitzen der schlanke Stock eines Weidenröschens zu leuchten, still, rot, eine kluge Flamme. Es ist ganz still – eine Forelle schießt über mich und schnellt sich von meiner Brust so ungestüm hoch, daß die Luft und die Erlen, wir alle jäh erschrecken. –

Und als der Schrecken verstummt und in sich wieder versunken war und es abermals begann, zwischen uns still und heimlich zu werden und sich aus großen, zärtlichen Augen anzusehen, flüchtete ich und habe mich angekleidet und bin den Hang hinaufgeklettert, bin vorsichtig und fremd zwischen den schlafenden Leuten hindurch gegangen und habe mich abseits unter einer Fichte hingelegt, deren Nadeln und strähnige Flechten Winters und Sommers nach den Bergen sehn.

Ihr seid anders als das Meer und ich vermag euch nicht zu lieben. Ich mag euch wohl nicht lieben, weil ich nicht wie ihr werden kann, hart, fern und kühl ihr meine leibgewordenen Sehnsüchte! Wie ihr euch hinter den sonnennachmittagsmüden Berberlöwen aufbaut, ihr blauen Steinleiber und weißen Schneegreisenköpfe – aber das Meer ist immer jung und wogt ruhelos, ewig verlangend, ewig geschlagen, voll von Schaumstandarten und brausendem Zorn – und wenn die Sonne auf dir liegt und die Winde sich brausend verlaufen haben, voll glatter tückischer Träume, das schäumend schöne Weib, ohne Seele und voll seliger Sehnsüchte – ihr seid anders als das Meer und ich hasse euch, weil ich noch nicht ganz bin wie ihr. Nun aber spielt die rote Sonne auf eurem Schnee, es wird Abend auch für euch und ihr fangt an, eures harten Stolzes müde zu werden – wie ihr träumt[31] und Wünsche werdet! verlangende, in alle Fernen weisende, wieder junge immer junge Wünsche! Nun liebe ich euch. Aber der Abend geht und läßt euch stehen wie blaue Schatten und gläserne Unwirklichkeiten. Jetzt hüllt ihr euch frierend in eure Wolkenwatte und die Nacht, der Mond und der Spuk ist wieder Herr geworden.

Nun liegt der Tornister in Reih und Glied und friert und friert und schauert unter dem Tau, den die müde Luft vor lauter Müdigkeit und Überdruß weinen zu müssen glaubt, während die vier Feuer immer wieder dicke rote Kleckse auf die Flechten und Fichten und Zelte werfen. Der Mond aber flieht vor dem Qualm und Rauch, den sie hastig in grauen Kugeln und weißen wulstigen Miniaturkumuluswolken aufzuwerfen nicht müde werden, und spielt mit sauertöpfischer Melancholie in den Nebellagern, die sich unten auf der Ebene aufgestapelt haben, zieht lange Bänder und Spiralen aus ihnen, baut himmelhohe hagere Klageweiber und kopfwackelnde Greise aus ihnen, hält sie eine Weile hoch und grinst dazu und läßt sie gedankenlos fallen, um bald das nutzlose Spiel wieder zu beginnen.

Ach! du holder Spuk und grinsende über dich selber witzelnde Sinnlosigkeit, ach! du unnötiger wahnsinniger weißer Gedankenjongleur und Planetenspinner! Wenn du mich einmal deine ganze säuerliche Süße und Vogelfeinheit hast kosten lassen, so mußt du mich ja schnell wieder zurückziehen in Qualm und Spuk und Nebelfeuchtigkeit. Nun möchte ich mich auch in Wolkenwatte hüllen und eine Zeit lang ferne sein können – den Tag über Stolz und am Abend ein wenig Müdigkeit – – ich will mich auch in mich senken und nur auf meinem Mantel soll der Mond und die Flamme und die feuchte Kälte spielen. – – und als ich sah, daß Gott wahrhaftig tot sei und der Stoff und das Ding an sich und das Ureine und die definitiven Wahrheiten, und wie alle die Verwesungsdünste und Schatten des toten Gottes heißen mögen, eben nur Schatten und Verwesungsdünste seien, und daß das Einzige, was wir können, nur das ist: uns des ewig Relativen und Sprachbedingten unserer Erkenntnis bewußt zu bleiben und diese Erkenntnis von allem, so kurz und weit es geht, zu reinigen, was wir als fälschende, anthropomorphisierende, Zutat früherer Zeitalter erkannt haben, fiel ich heraus aus eurer Welt und wies traurig zynisch auf eure Mäntelchen und Mätzchen, auf unsere lustig windbeutelnden Weisheiten hin. Da fingen die Weiber an,[32] mir nachzulaufen – weiß Gott, warum? – und die Frauen begannen mich zu »lieben«, und ich ließ es eine faule lange Weile mir wohl unter ihnen sein; ich belog mich wohl und nannte sie einen schönen schweren Rausch, in dem ich die Fragwürdigkeit meiner Welt – denn eure Welt ist fest! –, die ich nicht glaubte ertragen zu können, vergäße. Nebenbei liebte ich sie als das unverhüllteste Tier gegenüber unserer erbärmlichen Manns-Kultur-Verkleidung und krüppelhaften Feigheit. Denn ich habe nie das Leben an sich verneint, dazu verlange ich zu wenig von ihm, dazu kenne ich zu wenig eine Hinterwelt und ein künftiges Leben, dazu bin ich zu wenig Pfaff und schmollendes Kind, dazu wissen wir zu wenig von ihm, dazu – bin ich zu gesund. Aber am Ende wurde mir dieser Rausch, wie es die Art der Räusche ist, zuwider und ich glaubte, einen feineren und tieferen in der Kunst gefunden zu haben. Und ich berauschte mich an ihr und ich verrannte mich mit ihr und verlor mich wollüstig in dem Selbstgenuß und Wahn, totem Stein und toten Worten Leben und, wie ich glaubte, tiefen Sinn und über die Erfahrung hinausreichende Bedeutung geben zu können, bis ich erkannte, daß meine Stanzen und Berberlöwen an sich wertlose, durchaus nicht in das »Wesen der Dinge«, dessen erstrebenswerte Findbarkeit trotz seiner Entlarvung als Spuk immer noch in mir fortspukte, hineindringende, durchaus nicht die Sinnenerfahrung und deren logische Verarbeitung überfliegende Übermenschlichkeiten, sondern ganz individuelle Erzeugnisse einer ebenso individuellen seelischen Erkrankung seien. Ich sah ein, daß ich die Fähigkeit, die mich bestürmenden Eindrücke mir restlos zu assimilieren, verloren, vielleicht auch nie besessen hatte, so daß sie als Fremdkörper in mir liegen blieben, bis ich die mir wesensfremden und mich quälenden »künstlerisch« ausgeschieden hatte – Sekretionen einer dyspeptischen Seele, Notwendigkeiten und Selbstoperationen eines erkrankten Organismus. Der Sturz schmerzte und hier zum ersten Male schämte ich mich, und ich zerschlug meine Berberlöwenköpfe und grinsenden Sphinxe und zerriß meine Stanzen und Prometheusverse – –

»Was blieb mir noch zurück? Ein Herz müde und frech; ein unsteter Wille; Flatter-Flügel; ein zerbrochenes Rückgrat – – oh ewiges – Umsonst!«

Aber ich bin nun für alle Zeit jedes Wahnes und jedes Rausches müde, ich will endlich frei und rein und ganz gewollt einsam sein und dem Furchtbaren, denn das Leben ist etwas über[33] alle Maßen Furchtbares, furchtlos in die Augen sehen und es immer mehr umhämmern zu einem willfährigen Objekt meiner Lust – nicht eines »uninteressierten« Erkennens, nicht einer größenwahnsinnigen Kunst.

Aber deswegen muß ich zurück in die Stadt, in ihre tausend Verführungen zum Rausch, ihre alles übertosen wollenden brausenden Massenwiegenlieder, ihre tausend stürmenden Liebeslokkungen; denn die Einsamkeit zwischen Mondspuk und Schnee ist ein wohlfeiler Stolz und ein leichtes Genießen, sie kann sich ihrer selber noch nicht ganz sicher sein – wir wollen uns beide erst auf die Probe stellen, ich und meine tapfere Einsamkeit, und mitten hinein in die Versuchung springen, unseren Weg unbekümmert gehen, geradewegs ins Furchtbare hinein, zwischen Not und Seligkeit und Wahnsinn mitten durch.

Mein kleines Lieb – ich warnte dich und deine Freunde warnten dich, aber du wolltest mich trotzdem lieben, du liebtest mich wohl gerade meiner Warnung wegen. Deine kleine Seele ward voll von mir, ich rauschte in deinem Blut und wie klug du warst, als du batest, nur in dir das Tier zu sehen, das – so – hungrig! sei. Aber du sollst von nun an genug geküßt haben, du sollst von nun an genug in meinem Arm wie ein verbranntes Blatt schauernd zusammengebrochen sein – genug! mein Kobold. Der Wagen braust, ein Knirschen, ein kleiner weher Schrei – jetzt braust er in brennende Sonnen und eisige Unsterblichkeiten. –

Still! still! – die Nacht ist kühl und das Feuer erlosch und der Tornister in Reih und Glied friert und friert. Die Sterne mögen nicht scheinen und der Mond fiel schon lange irgendwo hinten zwischen die Berge – aus den Tälern aber ist der Nebel hochgekrochen und liegt schwer auf uns mit seinem feuchten Leib – es ist kalt, grimmig kalt. Und nach acht Stunden – denn soeben krähte schon irgendwo ein Hahn – wird die Sonne durch den blauen Himmel wie durch ein Brennglas auf uns glühen. Still! still – die Nacht ist still – – –

Quelle:
Gustav Sack: Paralyse. München 1971, S. 30-34.
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