§. 14. Oberpfälzische Ureigenheit.

[42] Was das Heidentum über die Welt und die waltenden Götter gedacht und festgehalten hat, zum Theil selber wieder als getrübte Erinnerung einer verlorenen helleren Anschauung aus entfernter Zeit, aus der Heimat im fernen Morgenlande, das klingt hier nach in leisen losen Tönen, deren Harmonie die Gegenwart kaum mehr ahnt, das erscheint hier als phantastisches Traumgebilde ohne Wirklichkeit, ohne Zusammenhang, als zersprengte Trümmer eines Riesenbaues, dessen tiefere Bedeutung für uns ein unlösbares Räthsel bleibt. Denn das Wann und Wo und Wie des Ueberganges von der[42] höhern Erkenntniß im Urzustande zu den verdüsterten Vorstellungen im Heidentume liegt unserm Auge zu ferne, als daß es seinen Blick hineintragen könnte. Und wäre uns auch dieses gegeben, so vermöchten wir doch nicht die Berührungspunkte aufzufinden, in denen diese Anschauungen bey den verschiedenen Völkern auseinander gingen, um später an anderm Orte sich wieder zu einen, so daß der Fäden des verworrenen Gewebes zu viele sind, um den Eintrag, der das Bild enthielt, zu Tage zu legen. Je weiter der Weg des wandernden Volkes von der ersten Heimat sich entfernte, desto blässer mußte die Erinnerung an sie und das Leben in ihr werden, desto mehr gewannen Einfluß die äussern Verhältnisse der neuen Wohnsitze, die Beziehungen zu den Nachbarvölkern.

Es ist daher wohl nicht Alles rein germanisch, was alte Sage und der Mund des heutigen Volkes aus jener Zeit zu uns herüber gebracht hat, und da frägt sich wieder: was ist herübergenommen aus dem Eigentume anderer Völker, die ihm einst zur Seite lagerten? Wer sagt uns ferner, wann die Germanen aufbrachen aus der Urheimat, und welches der Anlaß des Aufbruchs gewesen, unter welchen Schicksalen sie als grosses Volk, als Völkergemeinschaft heraustraten aus den andern Völkerstämmen? Nicht volle zwey Jahrtausende sind es, daß sie mit Sicherheit in die Geschichte eingeführt sind: was vorher durch sie vollbracht wurde, ihre Siege und Eroberungen, ihr Wachsen und Erstarken, davon gibt uns keine Urkunde Zeugniß. Nicht[43] wissen wir, welche Wege sie gegangen, ob von Süd nach Nord, um dann wieder von Nordost nach Südwest ihre Sturmfluth zu wälzen und so von der scandinavischen Inselwelt aus, der vagina gentium, das alt und morsch gewordene Europa auf's Neue zu verjüngen. Haben sie sich vom persischen Oberlande und Kaukasus her am nördlichen Rande des schwarzen Meeres hin vorgeschoben, ein Stamm nach dem Andern, um von da zur Donau zu gelangen, und stets sich die Hand reichend einen grossen Strom gebildet an Weichsel und Oder hinauf bis nach Skandinavien, um die Tschuden nach Nord und Ost zu werfen und dann über die Kelten herzufallen? Kein Mund bringt uns darüber sichere Kunde. Sollten die Germanen gleich Mongolen und Tataren stets auf derselben tiefen Stufe der Kultur gestanden haben, Jahrtausende lang, oder haben sie zeitweise höhere Stufen beschritten, um wieder davon herabzusteigen? An der gothischen Sprache lernen wir, daß es eine Zeit gegeben haben müsse, wo die Gothen höher standen, als im vierten Jahrhunderte, da Ulfilas ihnen die Bücher der heiligen Schriften der Christen in die eigene Sprache übertrug.

Und doch trägt unser Volk sich jetzt noch mit träumerischen Erinnerungen, die wie ein Blitz in jene Nacht hineinleuchten, welche auf die Vorzeit sich gelegt hat. Der russische Arzt Rafalowitsch sah im Morgenlande, um Gaza, die Getraidefrucht schneiden, indem man die Halme mit schmalen langen, durch einen Riemen an den Ellenbogen festgebundenen Sicheln sehr nahe an[44] der Aehre abschnitt. Jetzt noch trägt in der Oberpfalz der Bilmesschneider die Sichel an die Hand geschnallt, um Korn und Lein zu schneiden. Es ist hierin also Nachklang an den Aufenthalt im Morgenlande, die Priester haben die uralte Sitte gewahrt für ihre Handlungen der Weihe, das Volk sie verlassen. Noch weiter läßt sich die Vermuthung dehnen. Der Bilmesschneider geht nur an Korn, Roggen, und Lein, die Hauptfrucht am baltischen Meere. Dort muß eine Zeit lang das Volk der Oberpfalz gewohnt haben.

Dieser Schluß erscheint minder gewagt, wenn man an der Hand der Ueberlieferung, welche das Volk so treu, wenn auch unbewußt bewahrt, vorwärts schreitet. Der Oberpfälzer weiß noch, daß die Zwerge nach ihrem Tode auf eine Insel gebracht werden, wo sie zu neuem Leben erwachen. Solche Anschauungen kann doch nur ein Stamm, der selbst am grossen Wasser gewohnt, aus jener Zeit gerettet haben. Ferner sind seine Sagen von den Wassergeistern, besonders den Wasserriesen, Wasserzwergen und Wasserfrauen so reich und dabey so eigentümlich, daß man nicht umhin kann, anzunehmen, als habe das Volk, bey dem sie sich finden, einst den großartigen Eindruck des Meeres und seiner Wunder vor Augen gehabt. Solche Anschauungen bilden sich nicht in Binnenländern, und finden sie sich hier, so sind sie von den Ufern des Meeres mitgebracht. Am allerwenigsten aber kann man bey dem oberpfälzischen Volke an ein Entlehnen solcher Sagen denken.

Vor dreyundzwanzig Jahrhunderten hat Herodot bey[45] einem Volke in Thrakien, den Trausoi, Nachbarn der Geten (Gothen), die Sitte beobachtet, daß sie die Neugeborenen beweinen, weil sie doch nur für Leiden zur Erde kommen, dagegen die Gestorbenen, als diesen Leiden entgangen, glücklich preisen, daß sie dort trauern, hier tanzen. Billiges Erstaunen überkömmt den, welcher hievon weiß, wenn er vernimmt, daß unsere Sage die Sitte noch kennt, den Zwergen zuschreibt.

Der Oberpfälzer ist kein Bajuware, kein Franke, kein Slave. Er bildet einen eigenen Stamm, der fremd zwischen seinen mächtigern Nachbarn steht. Daher mag es auch kommen, daß ihn diese mit scheelem Auge betrachten, und weil er nicht ihres Blutes, sich berechtiget erachten, ihm Fehler anzudichten, die er nicht besitzt, das Gute, das ihm innewohnt, auf ein unbedeutendes Minimum herabzumarkten, ja seiner althergebrachten Loyalität einen ganz unlautern Grund, Trägheit, sich aus dem Gewohnten emporzuarbeiten, unterzustellen! Und wie dem Volke, ergeht es dem Lande. Es soll ein unwirthbarer Gau seyn und Schrecken für jeden Reisenden, den das Mißgeschick dahin führt. Diese Gereiztheit der Nachbarn hat wohl nur darin ihren Grund, daß der Oberpfälzer eben bleibt, wie er ist, und von unberufenen fremden Schulmeistern nichts annehmen will, was deren Eigenliebe begreiflicher Weise empfindlich verletzt. – Der Bajuware hat seinen Walserbaum auf der Walserhaide. Der Oberpfälzer auch: der kalte Baum auf dem Bergrücken zwischen Vohenstrauß und Wernberg ist sein Schlachtenbaum, und was darüber[46] die Sage berichtet, hat reichern mythischen Klang, als die Sage vom bayerischen, – ist ein Stück Edda.

Der Bajuware weiß von dem Hohenstaufen Kaiser Friedrich dem Rothbart, der im Untersberge haust und der Zeit wartet, wo der Feind von ihm bekämpft werden soll. Der Oberpfälzer hat Karl den Grossen in den Fichtelberg versetzt; dort schläft er mit seinen Rittern bis zum Tage des Weltkampfes. Er hat diesen Karl kennen gelernt, der mit seinem Lande wie ein Eroberer geschaltet, Sachsen zur Strafe ihres Muthes und Trotzes hieher versetzt, an seine Franken das mit dem Schwerte Gewonnene vertheilt hat. Er weiß von diesem »Karl ungeboren, der aus Mutter Leib geschnitten worden,« daß er auf seinem heimatlichen Boden die fossa Carolina gegraben hat.

Aber noch weiter zurück reicht die Ueberlieferung des Oberpfälzers. Sie erzählt noch von jenem zu Zwergen herabgesunkenen Volke, das von dem heutigen oberpfälzischen Stamme besiegt seinen Grund und Boden an die Sieger abgeben mußte, und um der Gewalt der Sieger zu entgehen, in die Berge, in das Innere des Fichtelgebirges sich zurückgezogen hat, wo es gleichfalls des Tages sehnsuchtsvoll wartet, der ihm Freyheit und Rache an den Bedrückern bringen soll.

Hätte also der Oberpfälzer gar nichts aufzuweisen, als seine Mundart, seinen kalten Baum und Karl den Grossen im Fichtelgebirge, so wären diese Zeugnisse hinreichend, sein ureigenes Wesen darzuthun und die Meynung solcher abzulehnen, welche in ihrer diktatorischen[47] Befangenheit bisher so beharrlich darauf bestanden, daß das Volk der Oberpfalz ein verkommener Ableger der Altbayern sey, und daher näherer Beachtung zu entbehren habe. Freylich kann man diesen Herren keine Urkunde, keinen Taufschein für den oberpfälzischen Stamm vorlegen und somit gegen sie nicht aufkommen, denn: quod non in actis, non in mundo. – Temme in seinen pommerschen Sagen meldet, daß Ostgothen auf der Heimkehr von Italien nach dem Untergange ihrer dortigen Herrschaft an den Harz gekommen und hier einen Theil ihrer Leute zurückgelassen hätten, welchen Göttingen seinen Ursprung verdankt. Nun findet sich in manchen Strichen jenes Berglandes Anklang an oberpfälzische Mundart, insbesondere in den Doppellauten und deren Brechungen. Ich zeige dieses hier bloß an, weil ich die Oberpfälzer von den Gothen leite, und werde später näher hierauf eingehen. –

Der Oberpfälzer stößt an die Schwaben. Wir finden von jeher Gothen und Sueven beysammen, an der Donau, am baltischen Meere, in Spanien. Der Oberpfälzer hat auch mehr gemeinsam, heute noch, mit dem südwestlichen Schwaben, in Sitte und Mundart, als mit dem Altbayer.

Sind hiemit auch nur leise Andeutungen gegeben, so sammeln sich diese doch zu einer Mehrzahl, welche zu näherer Erforschung auffordert, die Aufmerksamkeit des Kenners verdient.

München, am 21. Oktober 1857.


Quelle:
Franz Schönwerth: Aus der Oberpfalz. Sitten und Sagen 1–3, Band 2, Augsburg 1857/58/59, S. 42-48.
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