1003. Die Schönsteinsage.

[63] Mündlich.


Etwa ein halbes Stündlein von Röttingen an der Tauber gegen Stalldorf zu liegt ein Waldbezirk ausgebreitet, welcher den Namen Schönstheim oder auch Schönstein führt. Dieser Wald bildete vor Zeiten die Markung eines hier gestandenen Dorfes, und noch heutzutage findet man im Gestrüppe Spuren von Mauerwerk, namentlich von Gewölben eines ehemaligen Schlosses. Wie das Dorf zu Grunde gegangen und die Gemeinde sich aufgelöst, ist nicht ermittelt. Ein großer Theil der Bewohner ist nach Röttingen gezogen, wo bis auf diesen Tag die Gemeinde Schönstein in den Gemeindebüchern als eigene Gemeinde aufgeführt wird, wie denn auch die Besitzer besagten Waldbezirkes als Glieder dieser Gemeinde besonders berechtigt sind. Von jenem Schlosse Schönstein nun geht die folgende Sage im Munde des Volkes.

Es sind wohl über dreihundert Jahre, da war einmal ein schöner, junger Schäfer, der weidete oft seine Heerde in der Nähe des schon damals verfallenen Schlosses. Eines Abends hörte derselbe einen traurigen Gesang wie von einer zarten Frauenstimme aus dem Innern der Burg erschallen; aber vergebens spähte er nach allen Seiten hin, die Sängerin dieser schönen Lieder zu entdecken. Dieses wiederholte sich mehrere Abende[63] nacheinander, bis einmal der Hirt aus seinem Versteck das holde Fräulein von welchem der Gesang herkam, auf dem Gemäuer des Schlosses wandeln sah. Anstatt aber beherzt darauf loszugehen, ergriff der gute Schäfer, von heimlicher Furcht überfallen, die Flucht, eilte geraden Wegs nach Hause und verkündete dem Pfarrer seines Ortes, was er so eben gehört und gesehen habe. Dieser sprach ihm indessen Muth ein und gab ihm den Rath, sollte er noch einmal die Erscheinung sehen, sogleich darauf loszugehen und sie im Namen Gottes anzurufen, was ihr Begehr und wie ihr zu helfen wäre.

Also that der Jüngling, betete inbrünstig zu Gott und allen seinen Heiligen um Beistand, das gute Werk zu vollbringen, und zog dann gutes Muthes, wie alle Tage mit seiner Heerde in die Nähe des Schlosses. Es währte auch nicht lange, da ließ sich der traurige Sang von Neuem hören und bald zeigte sich auch die holde Frauengestalt in weißes Gewand und weißen Schleier gehüllt. Da faßte der Jüngling ein Herz, schritt keck auf sie zu und frug sie im Namen Gottes, was ihr Begehr und wie er ihr helfen könnte. Das Fräulein antwortete, sie sei hierher verbannt und müsse einen großen Schatz hüten so lange bis ein unschuldiger Jüngling käme und sie erlöste. Zu diesem Werke habe sie ihn auserkoren, nur solle er den Muth nicht verlieren und sich gefaßt machen, einen harten Kampf zu bestehen. Am Walburgistag solle er wiederkommen, jedoch seine Heerde daheim lassen, alsdann solle er, ohne umzusehen, keck nach der Burg eilen, sich durch keine Trugbilder und Erscheinungen abschrecken lassen, und von ihrem Halse einen Schlüssel nehmen, wodurch sie erlöst und für ihn der Schatz gehoben werde.

Der Jüngling versprach diesen Worten genaue Folge zu leisten. Darauf verschwand das Fräulein, der gute Schäfer aber machte sich nachdenklich auf den Rückweg und erzählte abermals seinem Pfarrherrn, was vorgegangen. Dieser ermunterte ihn auf's Neue, Muth zu fassen, da er ein gutes Werk vollbringen und noch dazu für sich und seine armen Eltern einen reichlichen Lohn davontragen werde. Als nun der festgesetzte Tag herangekommen, machte sich der Schäfer, nachdem er sich noch durch Beichte und Abendmahl vorbereitet, beherzt auf den Weg dem Schönsteiner Schlosse zu. Kaum näherte er sich aber dem Walde, da stieg plötzlich vor ihm ein mächtiger Geier auf und umkreiste sein Haupt unter wildem Gekreische und Flügelschlage. Das kümmerte aber den Schäfer wenig; still und vertrauend ging er seines Weges weiter. Gleich darauf sprang ein[64] gräulicher Wolf die Zähne fletschend vor ihn auf den Weg, während sich eine grüne Schlange auf dem Boden hinwand und in den Lüften das wilde Heer mit einem Höllenlärm vorüberbrauste. Dazu rollte der Donner schrecklich und zuckten die Blitze neben und über ihm, und wildes Gewürm umkroch seine Füße, also daß er keinen Schritt weiter thun zu können glaubte. Doch alles das hatte seinen Muth nicht erschüttert, muthig schritt er vorwärts auf die Jungfrau zu, welche er auf dem Gemäuer stehen sah. Aber welch' ein Anblick! Um ihren Hals waren zwei gräuliche Schlangen gewunden, die sich zischend hin und her bewegten und den goldenen Schlüssel in ihren Ringen festhielten. Aus diesem Knäuel giftigen Gewürms sollte der Jüngling den Schlüssel nehmen; dazu gehörte wohl mehr als menschliche Herzhaftigkeit. Schon war er Willens wieder umzukehren, als ihn ein Blick auf die arme, still duldende Jungfrau noch einmal mit frischem Muthe entzündete!

Also wagte er's, die letzten Schritte zu thun, und schon streckte er seine Hand aus, den Schlüssel vom Halse zu nehmen – da fährt die eine Schlange zischend und feuersprühend auf ihn los, der Jüngling taumelt zurück, – und in demselben Augenblicke sind Schlangen und Schlüssel verschwunden und die Jungfrau steht allein und wehklagend vor dem betäubten Jünglinge. Darauf nahm sie eine Eichel vom Boden, stampfte sie mit dem Fuße in die Erde und sprach: ich pflanze diese Eichel, aus dieser wird ein gewaltiger Baum, dieser Baum wird gefällt und aus seinen Brettern wird eine Wiege und in dieser Wiege liegt ein Knäblein und dieses Knäblein reifet zum Jüngling und dieser Jüngling erst kann mich erlösen. Nach diesen Worten verschwand die Jungfrau, der arme Schäfer aber stand wie vernichtet im Walde und dachte an die unglückliche Jungfrau und an sein verschwundenes Glück. Oft hat er nachmals die Heerde an dem Schönstein geweidet, aber die Jungfrau hat er sein Lebtage nicht wieder gesehen.

Quelle:
Alexander Schöppner: Sagenbuch der Bayer. Lande 1–3. München 1852–1853, S. 63-65.
Lizenz:
Kategorien: