1055. Die Sage vom Eckenbüttner.

[106] Von A. Haupt.


Auf der Straße nach Bamberg heult der Wind,

Da fliegen die graulichen Flocken geschwind.

Da wandert ein Weiblein dürftig und arm,

Und hält den zitternden Knaben im Arm.


»O Mütterlein! s' ist doch nimmer weit!«

So ruft das Kind, von Flocken beschneit,

Und ob es am Busen der Mutter auch ruht,

Sind Füßchen und Händchen so roth wie Blut.
[106]

Das hat ihm die grimmige Kälte gethan.

Und die Mutter läßt es im kindlichen Wahn,

Doch so weit sie das forschende Auge schickt,

Wird nirgends von ihr eine Hütte erblickt.


Der Knabe wimmert, die Mutter weint,

Und ob auch das Abendroth golden scheint,

Die Thräne der Mutter, so brennend heiß,

Gefriert an der zuckenden Wimper zu Eis.


Da gewahrt sie in dämmernder Ferne das Thor,

Zum Danke wohl schickt sie den Blick empor

Durch's Auge zuckt liebendes Muttergefühl:

»Bald Armer, bald sind wir am nahenden Ziel.«


Nun schlummert das Knäblein sonder Harm

An der Mutterbrust so liebend und warm,

Ob die Sohle auch brennt wie Feuergluth –

Ein Blick auf den Knaben macht alles gut.


Das Abendroth bleichet, die Sternlein glüh'n,

Aus der Ferne leuchtet der Esse Sprüh'n.

Und Lichtlein tanzen ohne Zahl,

So trüb durch den feuchten Nebel im Thal.


Wohl sitzen sie drinnen am traulichen Heerd,

Genießen, was ihnen der Herr bescheert,

Und draußen noch irrst du allein im Wind,

O Mutter, o Mutter, tritt auf geschwind!


Jetzt hat sie das alternde Thor erreicht,

Vom Frost durchschauert, vom Schnee so feucht,

Es thauet ihr Haar vom heißen Hauch,

Und die Tropfen fallen dem Kind auf's Aug.


Da erwacht das Knäblein, und lächelt so süß,

S' ist in Sturm und Wetter ihr Paradies.

O Mutterliebe, wie bist du so groß,

Entstammest der ewigen Liebe Schooß!


Der Knabe hungert, – sie drückt ihn an's Herz

Wohl fühlet sie selber des Hungers Schmerz;

»Sei ruhig mein Söhnchen, so Gott es will,

So sind wir sogleich an der Reise Ziel.«
[107]

Viel Lichtlein flimmern, die Straß' ist todt,

Sieht keiner der Bürger der Armen Noth?

Wo bleibst du, barmherziger Samaritan,

Der wankenden Mutter hilfreich zu nahn?


Es wankt durch die dunklen Straßen ihr Schritt,

Es knarret der Schnee bei jeglichem Tritt,

Es ächzet der kalte Wind im Schlot,

O Wind, du fühlst nicht der Mutter Noth!


So erreicht sie an allen Gliedern matt

Den Markt, die Mitte der schlummernden Stadt,

St. Martin schauet mit Wehmut und bleich

Herab auf Mutter und Kind zugleich.


Bei'm Eckenbüttner da klopft sie an's Thor,

Es klaffen die Rüden und springen hervor,

Umschnobern die Ritzen und kehren um,

D'rauf wird's im Haus wieder todt und stumm.


Sie pocht zum andernmale und lauscht.

Durch den Markt, den öden, der Nachtwind rauscht,

Sie steht und zittert vor grimmigem Frost,

Jetzt Mütterlein sei Gott dein Trost!


Da hallen gewichtige Tritte im Flur,

Ein Schlüssel hascht nach des Schlosses Spur.

Der Riegel knarrt, der Schein vom Licht

Fällt forschend auf der Mutter Gesicht.


»Erbarmt euch, Herr, des Knaben hier,

Er vergeht vor Frost und Hunger schier;

Ein wenig Stroh, ein Stückchen Brod

Entreißet Mutter und Kind dem Tod.«


»Was, Bettelvolk! hast mich in später Nacht

Um süße Ruh und Schlummer gebracht;

Hinweg, Gesindel, diebisch und schlecht,

Sonst schaffe dich weiter von hier mein Knecht.«


Es knarrt das Schloß, der Riegel fällt,

Stehst Mütterlein wieder allein in der Welt,

Stehst zitternd und frierend im nächtigen Wind,

O Vater der Wittwen erbarm' dich geschwind!
[108]

Da weilt auf St. Martin ihr trüber Blick,

Gleich irrt er zum wimmernden Knaben zurück:

»Verschließen sich Menschenthüren zu Hauf,

Nimm du uns, o heilige Stätte auf!«


Da wandeln die beiden den Tempel entlang,

Die Nacht ist schaurig, der Mutter wird bang.

Geh' Mutter voll Liebe nur immer zu,

Im stillen Beinhaus findest du Ruh.


Es krachen die Knochen, so hart wie Stein,

Es rollet der Schädel, es klappert das Bein.

Aus Knochen und Schädel, so hart und schlecht

Macht Mütterlein sich ihr Bette zurecht.


Da liegen nun Leben und Tod versöhnt;

Der Knabe schlummert, die Mutter stöhnt,

Bald regt sich's noch schwach auf dem schaurigen Pfühl,

Dann schweigt's. Im Beinhaus wird's todtenstill.


Da schwebte auf Wolken mit goldenem Schein

St. Otto in's Dunkel des Grabes herein,

Und bog mit Milde und feierlich

Zum kleinen, unschuldigen Schläfer sich.


»Steh auf,« so sprach er mild und weich,

»Und geh' zum Eckenbüttner gleich,

Sei guten Muths mein Sohn und sprich:

St. Otto, der Kinderfreund, schicke dich.«


Das Knäblein erwacht aus dem süßen Traum,

Es hascht nach der Mutter im dunklen Raum.

Es streichelt ihr kosend das feuchte Gesicht:

»O Mütterlein, Mütterlein, hörst du denn nicht?


Sahst' auch St. Otto's schöne Gestalt?

O Mutter, rede! wie bist du so kalt!«

Er rüttelt; wohl klappert's am dunklen Ort,

»O Mütterlein sprich nur ein einzig Wort!«


Da entfleucht das Kind, von Furcht gejagt,

Es tritt auf den Kirchhof. Der Morgen tagt.

Es klopft bei'm Eckenbüttner an's Thor,

»O harter Mann komme und tritt hervor.«
[109]

»Sprich, Knabe, was ist so früh dein Begehr?«

»St. Otto, der Heilige, schickt mich her,

Wir schliefen im Beinhaus die vorige Nacht,

Da Ihr uns das winzige Lager versagt.«


Da durchfährt es wie Blitz den harten Mann;

»O gnädiger Himmel, was hab ich gethan!

Bleib hier mein Kind in süßer Ruh,

Ich führ' dir, o Armer, die Mutter zu.«


Zum Beinhaus wankt er mit zitterndem Schritt;

Und wie er die Höhle der Todten betritt, –

Da schaut er bei dämmerndem Morgenroth

Verzweifelt die Mutter – die Mutter war – todt.


Der Eckenbüttner hat d'rauf sich gewandt,

Und nimmt das weinende Kind an der Hand:

»Sei ruhig, mein Sohn, bist nicht allein,

Ich will dir Mutter und Vater sein.«


Und wie er's versprach, so hielt er es auch,

Und wahrt' den Sohn, wie sein rechtes Aug',

Und hat er dem Knaben je wehe gethan,

Gleich schaut ihn die Mutter im Beinhaus an.


Und weicher und weicher wird's ihm um's Herz,

Wohl fühlt' er jetzt innig der Wittwen Schmerz,

Fühlt' doppelt, es stehe das Alter allein,

D'rum wollt er ein Retter der Alten sein.


Und gab mit frommem und reuigem Sinn,

Wohl Haufen von Gold zur Sühne hin,

Für sieche Weiber. Das wird, wie bekannt,

Die Eckenbüttner'sche Stiftung genannt.

Quelle:
Alexander Schöppner: Sagenbuch der Bayer. Lande 1–3. München 1852–1853, S. 106-110.
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