1079. Das seltsame Bild.

[129] Mündlich.


Wer heutiges Tags mit Sturmeseile von Dampfrossen gezogen das Saalthal entlang fährt, berührt auch das Städtchen Schwarzenbach an der Saale. Hier steht ein altes Schloß, dem Fürsten von Schönburg, früher deren von Stein gehörig. In einem Saale des Schlosses hing vor Zeiten unter vielen andern Bildern das Bild einer Frau von so widerwärtiger Gesichtsbildung, daß Jedermann, welcher es sah, kaum seinen Abscheu vor diesem Gesichte verbergen konnte. Das Bild vertrug es aber nicht, wenn man sich tadelnd über so häßliche Züge aussprach, weßhalb ältere Personen in diesem Schlosse die jüngeren warnten, sie möchten dem Bilde gegenüber ihre Zunge im Zaum halten. Einst bügelten die Dienerinnen einer Baronesse von Kotzau, welche das Schloß bewohnte, in dem Saale Wäsche und wurden dabei von einer guten Freundin besucht, welche fremd war und von dem seltsamen Bilde keine Kunde hatte. Diese betrachtete sich die Bilder im Saale und als sie zu gemeldetem Bilde kam, entfuhren ihr die Worte: »ach! wer ist denn das garstige Gesicht?« Die beiden anderen Mädchen warnten und baten sie, zu schweigen, denn dies Bild vertrüge einmal schlechterdings keinen Tadel, jene hingegen lachte lautauf und meinte, das sei wohl gleichgültig, ob sie sich lobend oder mißbilligend ausspräche – und es bliebe doch wahr, sie hätte in ihrem Leben kein häßlicheres Gesicht gesehen – bei diesen Worten drehte sich das Bild mit Blitzesschnelle an der Wand um und beohrfeigte die Fremde, welche das Bild getadelt, so heftig, daß ihr Gesicht lange Zeit glühend war. Das Bild aber hing verkehrt an der Wand, bis eine der Bewohnerinnen es wieder umkehrte. Seitdem hütete sich Jedermann, dem Bilde mit einer verletzenden Aeußerung nahe zu treten.

Quelle:
Alexander Schöppner: Sagenbuch der Bayer. Lande 1–3. München 1852–1853, S. 129.
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