1185. Das Gaisthor zu Kaufbeuren.

[204] Mündlich.


Um die Hälfte des vierzehnten Jahrhunderts im Kampfe der Städte gegen die Fürsten zog Herzog Teck von Mindelheim mit vielem Kriegsvolk gen Kaufbeuren und belagerte die Stadt. Tapfer vertheidigten sich die Bürger, wohlverwahrt hinter Mauern und Thürmen. Indessen brach eine Hungersnoth aus; denn unversehens war der Mindelheimer vor die Stadt gekommen; man konnte nur die Thore schließen, aber keine Getreidevorräthe mehr für eine lange Belagerung schaffen. Der Bedrang war groß. Da machte sich eines Tages ein alter Weber, dem die Jahre den grauen Bart schon völlig weiß gebleicht hatten, neugierig aber schüchtern auf die Stadtmauer und lugte durch eine Schießscharte zu dem Feinde ins Feld hinaus. Auf einmal sieht er ein rasches Bewegen im Lager und die Fähnlein immer weiter und weiter ziehen, bis sie endlich ganz seinem Auge entschwinden. Allgemeines Staunen in der Stadt über den unbegreiflichen Vorgang. Erst später erfuhr man, daß die Belagerer den alten Weber mit seinem weißen Barte für einen Geisbock gehalten und daraus abgenommen hatten, die Stadt, die sie wegen ihrer Festigkeit und tapferer Gegenwehr nur durch Hunger erobern konnten, müßte noch bedeutende Vorräthe an Lebensmitteln haben. Das Thor, wo der Weber hinausschaute, wurde von selber Zeit an das Gaisthor geheißen. Auch, nachdem es längst abgebrochen, erinnert noch das daranstoßende Wirthshaus des »Gaiswirthes« an die Geschichte.

Quelle:
Alexander Schöppner: Sagenbuch der Bayer. Lande 1–3. München 1852–1853, S. 204.
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