355. Die Jungfrau auf der Wegelburg.

[357] Von Hermann Zapf. – Wegelburg 1 St. von Schönau südlich von Dahn.


Kennst du des Wasgaus steile Höh'n

Mit ihren Felsenkronen,

Mit Wäldern schattiggrün und schön,

Wo Trümmer stolzer Schlösser stehn',

Und Eul' und Habicht wohnen?


Dort stand auf hohem Felsengrund

Ein Schloß in alten Tagen,

Ich lauschte an der Leute Mund,

Horch, was sie gern mir thaten kund

Von seinen alten Sagen.


»Wer kommt zu guter Stunde hin

Auf jenes Berges Spitzen,

Dem thun sich Höhlen auf und drin

Sieht er gar manchen Rubin

Und Gold und Silber blitzen.«


»Das schönste aber, was er sieht,

Ist eine Jungfrau feine,

Die schönste, die im Lande blüht,

Mit reinem Leib, reinem Gemüth,

Doch scheint's, als ob sie weine.«


»Sie harrt schon viele hundert Jahr'

Deß, der Erlösung bringe:

Doch ob schon kam 'ne ganze Schaar,

Die lüstern nach dem Golde war,

Der kommt nicht, der's erringe.«


Und ist die Lösung denn so schwer?

»Dreimal mußt du sie küssen;

Doch will sie prüfen dich erst sehr,

Ob du nichts Andres liebest mehr,

Als ihren Mund den süßen.«


»Zuerst kommt sie als Schlange wild,

Mit feuersprüh'ndem Rachen,

Mit Höllenaugen, schrecklich Bild!

Willst lösen du die Jungfrau mild,

Mußt küssen diesen Drachen!


Und dann als giftgeschwoll'ne Kröt'

Mit riesenhaftem Leibe,

Als Scheusal dir erscheint sie schnöd;

Nur wer es küßt alsbald nicht blöd,

Der naht dem schönsten Weibe.«


»Dem ist sie eigen dann sofort,

O glücklich wer's vollbrächte!

Der fände auch den reichen Hort,

Den größten Schatz an diesem Ort;

Wohl ihm, seinem Geschlechte!«


»Doch keiner hat es noch vollbracht,

So muß sie trauern immer,

Sie harret immer Tag und Nacht,

Das Harren hat sie müd gemacht,

Getrübt der Augen Schimmer.«


Ich stieg den hohen Berg hinan,

Er liegt an Frankreichs Gränzen,

Ich sah die alten Trümmer an,

Ich sah des Rheines weiße Bahn

Und Straßburgs Münster glänzen.


Ich sah das liebe deutsche Land,

Wo sich die Berge dehnen

Hinab zum grünen Neckarstrand,

Im Glanz der Sonne licht entbrannt –

Da ward mein Aug' voll Thränen.
[358]

Mir fiel noch eine Jungfrau ein,

Gebannt seit alten Zeiten,

Es ruft das Volk, es rauscht der Rhein,

Noch keiner konnte sie erschrein,

Erlösung ihr bereiten.


Und täglich wächst noch ihre Schmach –

Wer kommt sie zu erlösen?

Ach! seufzend harrt sie Tag um Tag,

Und Keiner sie befreien mag

Mehr aus der Macht der Bösen.

Quelle:
Alexander Schöppner: Sagenbuch der Bayer. Lande 1–3. München 1852–1853, S. 357-359.
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