509. Der Thurmaffe zu München.

[46] Mündlich.


Mit den alten Häusern schwindet so manches steinerne oder gemalte Wahrzeichen, daran sich eine uralte Geschichte oder eine sagenhafte Ueberlieferung knüpfte. So befand sich im alten Hofgebände zu München vormals ein Thurm, auf dessen Spitze sah man einen aus Stein gehauenen Affen. Das gedenken freilich die jetzigen Münchener nicht mehr: kaum die ältesten Leute erinnern sich daran. Wie aber der Affe von Stein auf den Thurm gekommen, davon erzählte man folgende Geschichte. Vor[46] Alters war der Brauch, daß sich die großen Herren nicht nur Hofnarren, sondern auch Leibaffen zu ihrer Kurzweil und Belustigung hielten. Da hatte denn auch ein Herzog von Bayern einen solchen Affen bei Hofe. Der Affe mußte einer von den guten und leutseligen gewesen sein, denn er durfte nach Belieben im ganzen Schlosse herumwandern und war überall, wo er sich aufhielt, wohl gelitten. Nun eines Tages geschah es, daß der Affe sich zufällig ganz allein in dem Zimmer befand, in welchem ein Söhnlein des Herzogs in der Wiege lag. Dem Affen, welcher schon mehrmals die Wärterin beobachtet hatte, wie sie das Kind in die Arme nahm, wiegte und schaukelte, kam eine Lust an, die Rolle der Wärterin zu spielen. Also hob er den Prinzen aus der Wiege, schloß ihn fest in seine Arme und fieng an, voller Freude mit dem Kindlein hin und her zu rennen. In diesem Augenblicke sieht ihn die Wärterin und stößt einen Schrei des Entsetzens aus, wie sie das theure Wesen in den Armen des rauhen Thieres erblickt. Darüber erschrickt der Affe, rennt mit dem Kinde davon, die Wärterin hinter ihm her, durch die Gänge des Schlosses, Treppe auf und nieder, bis endlich der verfolgte Affe am Dache anlangt, zu einem Loch hinausschlüpft und sich auf die Spitze des Erkerthurms setzt. Da war nun guter Rath theuer; die herzogliche Familie im Hofe in Todesangst, Niemand getraute sich, den Affen weiter zu verfolgen, weil das Leben des Prinzen dabei in Gefahr schwebte. So ließ man ihn denn ruhig eine Zeit lang den Prinzen im Arm auf dem Thurme sitzen. Wie das Thier sah, daß es wieder ruhig geworden und seine Verfolger verschwunden seien, machte er sich mit dem Prinzen im Arme wieder vom Dache herab und brachte das Kind unversehrt in die Wiege zurück. So groß nun die Freude der herzoglichen Familie darüber war, so durfte sich doch der Affe nicht mehr in den fürstlichen Zimmern sehen lassen, und wurde zum Angedenken das Bild desselben in Stein gehauen auf die Zinne des Thurmes gesetzt.

Quelle:
Alexander Schöppner: Sagenbuch der Bayer. Lande 1–3. München 1852–1853, S. 46-47.
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