609. Der Herrgottstein bei Selb.

[156] Von PhilippZapf.


Es zog der liebe Gott einmal

In menschlicher Gestalt

Auf manchen Berg, durch manches Thal

In uns'rem Fichtelwald;

Und als er müde ward gar sehr,

Da schaute er wohl ringsumher,

Wohin sein Haupt zu legen.


Auf sein allmächtig Werde stand

Ein Fels vor'm Auge sein,

Der lud, bequem an Sitz und Wand,

Zu süßer Ruhe ein:

Da setzte sich der liebe Gott,

Vergaß die Müdigkeit, die Noth,

Aus Lust an seinen Werken.


Es ragt von grünem Wald bekränzt

Manch riesenhaft Gestein!

Der Quell, in dem der Himmel glänzt,

Perlt durch das Moos so rein!

Da hat er so bei sich gedacht:

Sieh', gut ist Alles, was gemacht!

Und zog erquickt dann weiter.


Noch heute steht am Weg der Stein,

Ein seltsames Gebild,

Es kehrt der müde Wandrer ein

Zur Ruhe süß und mild:

Er betet in dem Stuhl des Herrn

Sein heilig Vaterunser gern,

Und zieht gestärkt dann weiter.

Quelle:
Alexander Schöppner: Sagenbuch der Bayer. Lande 1–3. München 1852–1853, S. 156.
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