778. Die verwünschte Frau.

[292] A. v. Herrlein die Sagen des Spessarts S. 210.


Als die Grafen von Rieneck ausgestorben und auch der Amtmann herab in's Dorf gezogen war, wohnte auf dem Wildensteiner Schloß der Schäfer. Er hatte ein Stück Ackerfeld für sich und einen Weidplatz für seine Schafe.

Einmal nun stand der Schafpferch auf dem sogenannten kleinen Höhacker, an welchem oben und unten das Gebüsch des Waldes anstößt und es war Nacht und der Schafknecht lag in seiner Hütte bei den Schafen und schlief. Da geschah eine Erschütterung an seiner Hütte und er sah hinaus und erblickte eine weiße Frau; dieselbe hatte einen schwarzen Schleier um den Kopf und ganz nasse Augen und winkte ihm, er aber erschrack, hielt sich die Augen zu und kroch in die Tiefe seiner Hütte. Des Morgens sagte er es seinem Herrn.

»Wenn sie wiederkommt,« sagte dieser, »so rede sie an und sprich: Alle gute Geister loben Gott den Herrn! Was ist dein Begehr?« Den Abend kam sie wieder und er that, wie sein Herr geboten. Die Frau sprach: »Ich bin eine verwünschte Dame aus dem Schloß, und du kannst mich erlösen. Sei morgen Abend zwischen elf und zwölf Uhr an der Schloßbrücke, da komme ich aber nicht so wie jetzt, sondern als eine Schlange, winde mich an dir hinauf und gebe dir die Schlüssel. Du darfst dich aber nicht fürchten, ich thue dir nichts und kann dir nichts thun.«

Der Schafknecht sagte: »Ja ich komme!« – »Was soll ich mich auch fürchten?« dachte er, »ich bin (als ein Schäfer) aus dem Geschlechte[292] Mosis – derselbe hat sich vor der Schlange, die aus dem Hirtenstabe wurde, auch nicht gefürchtet,« faßte guten Muth und einen ordentlichen Stolz in seinen Kopf, daß er Mosis Nachfolger werden sollte, und als nun die bestimmte Zeit da war, und die Nacht dunkelte, stellte er sich an den bestimmten Ort. Auf einmal erhob sich ein großes Krachen in dem Schloß, daß er meinte, das Schloß wollte zusammenstürzen und ein erschreckliches Rauschen und Rollen, wie das Donnern eines Gewitters – und siehe! eine große eisgraue Schlange kroch daher, hatte ein Gebund Schlüssel im Maul und fuhr auf den Schafknecht los; der aber, wie er sie sah, schrie auf und lief davon.

Da wurde die Schlange wieder zu einer Frau, jammerte herzzerreißend und sprach: »Wehe, jetzt dauert's wieder hundert Jahre, bis ich erlöst kann werden. Denn es wird ein Kirschbaum wachsen drüben im Wald, und von diesem werden Bretter geschnitten, und aus den Brettern eine Wiege gemacht werden, und das Kind erst, das zuerst darin gewiegt wird, kann mich erlösen!« –

Am folgenden Tag nahm der Schafknecht seine Schäferschippe und seinen Hund und wanderte; denn er hätte das Weinen und Jammern der Frau nicht noch einmal hören können.

Quelle:
Alexander Schöppner: Sagenbuch der Bayer. Lande 1–3. München 1852–1853, S. 292-293.
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