Das Bahrrecht

[296] »Nun geht, Graf Otto! Zum drittenmal

Erduldetet ihr die Folterqual

Und habt sie, wie keiner, bestanden.

Wohlan denn! Reinigt Euch ganz vom Verdacht,

Als hättet den Ohm Ihr umgebracht

Aus Gier nach Schätzen und Landen!

Drei Stunden harret mit festem Mut

Allein an der Bahre, darauf er ruht;

Entquillt den Wunden alsdann kein Blut,

So lösen wir Euch aus den Banden.«


Drauf Otto: »Ich scheue die Probe nicht;

Kommt, daß ich allen wie Sonnenlicht

So klar meine Unschuld mache!«

Er spricht's; ihn führen die Schöffen den Gang

Zur Totenkammer schweigend entlang;

Durch die Thür ein läßt ihn die Wache.

Davor wird wieder gewälzt der Stein,

Und der Graf bei flimmerndem Lampenschein

Bleibt mit des Herzogs Leiche allein

Im schwarzbehängten Gemache.
[296]

Da liegt der Greis, der einst ihn erzog

Und mild des verwaisten Knappen pflog,

Da liegt er vor ihm auf der Bahre;

Sein Antlitz, drauf einst Liebe wie Haß

So mächtig geflammt, nun welk und blaß,

Umflossen vom weißen Haare.

Graf Otto steht in Sinnen versenkt;

Nicht mehr, wie schwer ihn der Tote gekränkt,

Als er ihm die Tochter versagt, nun denkt

Er nur an die glücklichen Jahre;


Denkt, wie er zuerst mit Schwert und Schild

Zur Seite des Ohms aufs Schlachtgefild

Gesprengt durch das Waffengeblitze;

Und wie, als er selber im Kampfe verzagt,

Sein eigenes Leben der Herzog gewagt,

Damit er den Knappen beschütze.

Er denkt es; ihm deckt die Augen ein Flor;

Blut, glaubt er, quill' aus den Wunden hervor,

Das, Gottes Rache heischend, empor

Zur Wölbung der Kammer spritze.


Noch steht in stummem Starren der Graf;

Da ist ihm, als säh' er vom Todesschlaf

Den Greis sich langsam erheben,

Als schlag' er die Augenlider zurück

Und schau' ihn an mit dem alten Blick,

Nur finsterer als im Leben.

Graf Otto taumelt zurück mit Graun;

Er wankt, doch kann er hinweg nicht schaun;

Kalt auf die Stirne fühlt er es taun

Und den Boden unter sich beben.


An der Bahre liegt er dahingestreckt,

Als Stimmenruf aus dem Starren ihn weckt;[297]

Schon sind verronnen die Stunden.

Die Richter treten in das Gemach

Und forschen nach Sitte des Bahrrechts nach,

Ob Blut entquollen den Wunden.

Sie rufen: »Glückauf! Kein Tropfen floß!

Glückauf, Graf Otto, besteigt Eur Roß;

In Frieden kehrt heim nach Windeckschloß!

Unschuldig seid Ihr befunden.«


Wohl hört der Verklagte der Richter Wort;

Stumm aber liegt er fort und fort

Zu des schweigenden Klägers Füßen;

Glückwünschend strömen die Diener herbei:

»Was zögert Ihr, Herr? Ihr seid nun frei!«

Doch achtet er nicht ihr Grüßen.

Auf springt er und ruft, aus dem Brüten erwacht:

»Ich habe den Oheim umgebracht

Und heische das eine: noch diese Nacht

Die Strafe des Mordes zu büßen.«

Quelle:
Adolf Friedrich von Schack: Gesammelte Werke in zehn Bänden. Band 2, Stuttgart 31897, S. 296-298.
Lizenz:
Kategorien:

Buchempfehlung

Musset, Alfred de

Gamiani oder zwei tolle Nächte / Rolla

Gamiani oder zwei tolle Nächte / Rolla

»Fanni war noch jung und unschuldigen Herzens. Ich glaubte daher, sie würde an Gamiani nur mit Entsetzen und Abscheu zurückdenken. Ich überhäufte sie mit Liebe und Zärtlichkeit und erwies ihr verschwenderisch die süßesten und berauschendsten Liebkosungen. Zuweilen tötete ich sie fast in wollüstigen Entzückungen, in der Hoffnung, sie würde fortan von keiner anderen Leidenschaft mehr wissen wollen, als von jener natürlichen, die die beiden Geschlechter in den Wonnen der Sinne und der Seele vereint. Aber ach! ich täuschte mich. Fannis Phantasie war geweckt worden – und zur Höhe dieser Phantasie vermochten alle unsere Liebesfreuden sich nicht zu erheben. Nichts kam in Fannis Augen den Verzückungen ihrer Freundin gleich. Unsere glorreichsten Liebestaten schienen ihr kalte Liebkosungen im Vergleich mit den wilden Rasereien, die sie in jener verhängnisvollen Nacht kennen gelernt hatte.«

72 Seiten, 4.80 Euro

Im Buch blättern
Ansehen bei Amazon

Buchempfehlung

Große Erzählungen der Frühromantik

Große Erzählungen der Frühromantik

1799 schreibt Novalis seinen Heinrich von Ofterdingen und schafft mit der blauen Blume, nach der der Jüngling sich sehnt, das Symbol einer der wirkungsmächtigsten Epochen unseres Kulturkreises. Ricarda Huch wird dazu viel später bemerken: »Die blaue Blume ist aber das, was jeder sucht, ohne es selbst zu wissen, nenne man es nun Gott, Ewigkeit oder Liebe.« Diese und fünf weitere große Erzählungen der Frühromantik hat Michael Holzinger für diese Leseausgabe ausgewählt.

396 Seiten, 19.80 Euro

Ansehen bei Amazon