Die erste Schwalbe

[342] Nun der Himmel wieder lichter

Und die letzte Flocke schwand,

Kehrst du, wie dem Griechendichter,

Kehrst du mir vom Morgenland?

Unter Palmen und Eypressen,

Schöne Sängerfreundin, ward

Nicht der Freund von dir vergessen,

Der im Norden dein geharrt?


Grüßend unsre Nacht, die kalte,

Hat dich jener Strand geschickt,

Wo noch ungetrübt das alte

Flammenauge niederblickt,

Und du singst uns von den Küsten,

Die das heil'ge Meer umschmiegt,

Das an seinen Mutterbrüsten

Unsern ersten Schlaf gewiegt;


Von dem Land, das, eh die Blindheit

Unsern Geist mit Nacht umgraut,

Mit dem Seherblick der Kindheit

Wir in Träumen oft geschaut;[342]

Wo wir, wenn die frische Quelle

Uns zu ihren Borden lud,

In des Erdenmorgens Helle

Mit den Hirten oft geruht.


Sing denn mit dem Ruf des Werde

Das erstorbne Leben wach;

Durch das große Herz der Erde

Laß es pulsen hundertfach,

Daß in Frühlingswonne klopfend

Es die Winterbande sprengt,

Und der erste Tau sich tropfend

An die erste Blüte hängt!


Ach! in seinen Schmerz versponnen

Schlief mein Herz den Winterschlaf,

Wo kein warmer Blick der Sonnen

Den verpuppten Träumer traf;

Alle meine muntern Geister,

Die sonst Lebenslust gesprüht,

Neigten starrend in beeister

Nacht die Häupter schlummermüd.


Doch bei deiner Stimme ersten

Klängen klopfte hoch mein Herz;

Wie aus Gräbern, wenn sie bersten,

Die Erstandnen himmelwärts,

Schwangen aus der Seele Tiefen

Wünsche, tief verhüllt vom Tod,

Hoffnungen, die lange schliefen,

Jubelnd sich ins Morgenrot.


Aus des Kummers Grabgespinste,

Ein befreiter Falter, brach

Meine Liebeslust und blinzte

In den goldnen Frühlingstag;[343]

Um sie flatterten und summten

Freuden aus der Gruft empor,

Wirbelte der lang verstummten

Lieder muntrer Lerchenchor.


Sei denn, da der alte Härmer,

Da der Gram des Winters wich,

Sei der erste Sang der Schwärmer

Dir geweiht – wie nenn' ich dich?

Rettungsbotin dem Gefangnen,

Oder gottgesandter Geist,

Der vom Grabe des Vergangnen

Auf die bess're Zukunft weist!

Quelle:
Adolf Friedrich von Schack: Gesammelte Werke in zehn Bänden. Band 2, Stuttgart 31897, S. 342-344.
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