248. Das Gesicht der Magd.

[238] Es ist in Hattorf gewesen und am Andreasabend, da war eine Frau, die lag schon längere Zeit krank und weil das Dienstmädchen sie gut verpflegte, war sie heute recht zutraulich mit ihr und sagte: sie solle sich den Abend splitternackt ausziehen und in[238] den Schornstein sehen, da könne sie ihren Zukünftigen erblicken. Wenn er nicht im Schornstein wäre, so würde er im Ofenloche sitzen. Trüge sie aber schon einen im Herzen und hätte sich heimlich mit ihm versprochen, so könnte sie sehen, ob etwas daraus würde, wenn er da säße; aber dann wollte sie ihr nur wünschen, daß sie keine Leiche im Schornstein erblickte, sonst müste ihr Bräutigam sterben. Sie trüge keinen im Herzen, sagt das Mädchen, zieht sich den Abend splitternackt aus, blickt im Schornstein hinauf, sieht aber niemand. Da leuchtet sie auch mit ihrem Lichte ins Ofenloch, da sitzt der Herr vom Hause darin und betrachtet sie. Da läuft das Mädchen zur Frau und klagt ihr, was der Herr für einer sei. Die Frau fragt sie immer wieder, ob es denn wohl wahr sei, daß sie den Herrn im Ofenloche gesehen habe. Es will aber niemand mit dem Herrn darüber sprechen, die Magd nicht aus Scham und Verdruß, die Frau nicht, weil sie in der Sache tiefer sieht, als die Magd. Endlich sagt die Frau weinend zur Magd, wenn sie wirklich den Herrn im Ofenloche hätte sitzen sehen, so müste sie, die Frau, noch in diesem Jahre sterben; die Magd aber würde die Frau im Hause werden, und damit wollte sie ihr ihre Kinder empfohlen haben. Ein halbes Jahr darauf war die Frau todt. Nun sagt der Herr zu der Magd: »was kann das helfen? ich muß wieder eine Mutter bei meinen Kindern haben,« heirathet sie, und die Magd wird die Frau im Hause.

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Georg Schambach / Wilhelm Müller: Niedersächsische Sagen und Märchen. Göttingen 1855, S. 238-239.
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Niedersächsische Sagen und Märchen
Niedersächsische Sagen und Märchen : Aus dem Munde des Volkes gesammelt und mit Anmerkungen und Abhandlungen herausgegeben. Nachdruck 1979 d. Ausgabe Göttingen 1855.