Dritter Akt


[89] Die Szene des ersten Aktes.

Vor der Mauerbrüstung, zwei Meter über dem Fussboden, befindet sich eine weisse Schallglocke, aus der oben ein dicker weisser Schlauch herausragt, der in grossem Bogen hinter der Mauerbrüstung nach unten führt. Die Glocke kann aus Papier sein und von dem kompakten Schlauche gehalten werden.

Es erscheinen wieder wie im ersten Akt zuerst die beiden ersten Welträte.


ERSTER RAT. Das Benehmen unsrer gnädigen Frau ist in der Tat höchst seltsam.

ZWEITER RAT. Jetzt wieder diese Ansprache an die dummen Völker! Wirklich, die gute Oku ist zu jung – zu jung! Das hab ich ja gleich gesagt.

ERSTER RAT. Und der Abgrund wird immer giftiger.

ZWEITER RAT. Ja, es steigen die reinen Weltdünste aus unsrem Abgrund heraus.

ERSTER RAT. Sehr ungesund – auch für uns!


Graf Abgrund erscheint mit den vier anderen Herren.


GRAF ABGRUND. Sei gegrüsst, vieledle Schallglocke! Du wirst uns schon mit den Völkern in Verbindung bringen: durch Dich werden wir wieder mal unsern Völkern so recht verständlich werden. Meine Herren, entblössen Sie vor diesem technischen Wunder – diesem Volkssymbol – Ihr Haupt!


Alle tuns.


ZWEITER RAT. Wo sind denn die Völker?


Die Herren bedecken sich wieder.


GRAF ABGRUND. Fragen Sie doch nicht so, als ob sie meine Worte ernst nehmen möchten; die Völker sind, wo sie immer sind – zu Hause.

ERSTER RAT. Ja! Die liebe Häuslichkeit!

GRAF ABGRUND. Wir haben fast unsre gesamte Dienerschaft und Beamtenschaft unten im grossen Karossenhof antreten lassen – und diesen Herrschaften wird es ein Kleines sein, die Stimmen des Volkes täuschend nachzuahmen.[89]

SECHSTER RAT. Dann wollen wir doch mal probieren, Herr Graf, ob diese Völkerimitation pflichtschuldigst den üblichen Beifall zum Ausdrucke bringen kann. Frau Okurirasûna ist noch bei Ihrer Toilette. Reden Sie mal, Graf, in die Nachtmütze hinein! Ich werde die Stimme des Volkes dirigieren.


Er beugt sich über die Brüstung und klatscht in die Hände.


GRAF ABGRUND. Schön! So wollen wir mal eine Rede improvisieren.


Er stellt sich unter die Schallglocke mit dem Gesicht dem Publikum zugekehrt, nimmt den Hut mit beiden Händen und presst ihn an die Brust und wirft nun den Kopf ins Genick und spricht nachher nach oben in die Schallglocke hinein.


ZWEITER RAT. Wir wollen den Redner zunächst mal beleuchten


Sie tuns mit ihren Blendlaternen.


GRAF ABGRUND. Eine Erleuchtung überkommt mich! Ehrwürdige Völker unsrer ehrwürdigen Centralsonne! Wir sind Euch für Eure heilige Einfalt zu grossem Danke verpflichtet – denn Eure heilige Einfalt giebt uns zu essen und zu trinken und zu leben, wie's Welträten zukommt. Glaubt mir, Völker, ich bewundre Euch! Der sechste Rat hinten schwenkt seinen Zylinder über der Brüstung und ein Beifallsgeschrei dringt aus grosser Tiefe dumpf empor. Ihr seid klüger als die andern Völker auf den andern Sonnen und Sternen! Abermals Beifall. Ihr habt Euch frei gemacht und habt Euch auf Euch selbst gestellt! Beifall. Niemand hat Euch was zu sagen! Beifall. Und trotzdem Ihrs nun garnicht nötig habt, lasst Ihr uns doch einen guten Tag leben – ganz freiwillig! Das ist brav von Euch! Ihr lasst Euch von uns weissmachen, dass wir die Sterne lenken – und dafür ernährt Ihr uns und gebt uns Alles, was uns Spass macht! Völker, ich bewundre Euch!


Tosender Beifallssturm.


ERSTER RAT. Meine Herren, beenden Sie Ihre Scherze; die gnädige Frau kommt mit Eilschritten herbei.

GRAF ABGRUND setzt wieder den Zylinder auf. Na? Wie wars?


Die sechs Räte rufen: »Herrlich!« »Entzückend!« »Süperb!« »Meisterhaft!« »Ueberraschend!« »Skurril!« und schütteln dem Grafen gratulirend die Hände. Danach erscheint die Okurirasûna von rechts genau wie im ersten Akt – nur tragen diesmal[90] die Diener und Dienerinnen auf zwei Meter hohen Stöcken brennende Kerzen in grossen flachen Schalen.


OKURIRASÛNA. Wo sind denn nun die Völker? Und was soll diese weisse Glocke?


Lekafolirâm und Mesmeimônio ordnen die beiden Hälften der Schleppe.


GRAF ABGRUND. Sofort will ich Euer Gnaden alle Fragen beantworten. Ich muss nur zunächst die Dienerschaft auffordern, sich an beiden Wänden in Reih und Glied zu stellen.


Die Dienerschaft tuts.


OKURIRASÛNA. Jetzt bin ich neugierig. Wo sind die Völker?

GRAF ABGRUND. Ja, glaubten Euer Gnaden, die Völker hätten hier auf dem Weltbalkon sich versammeln können? Die Völker sind unten vor den tausend Toren des Sternpalastes versammelt und warten, dass Euer Gnaden reden werden.

OKURIRASÛNA. Ja, wie soll ich das denn machen?

GRAF ABGRUND. Nichts einfacher als das! Diese Glocke ist eine Schallglocke, ein technisches Wunder. Sprechen Sie da von unten hinein, so wird der Schall Ihrer Stimme nach tausend Seiten übertragen – und alle Völker hören Ihre Stimme so laut – dass die Ohren der Völker nur so dröhnen. Passen Sie auf, ich will Ihnen mal die Sache vormachen.


Der sechste Rat verschwindet hinten rechts, die anderen Räte bleiben stehen, wo sie gerade stehen – mit den Zylindern auf dem Kopfe.


OKURIRASÛNA. Machen Sie's kurz, Herr Graf!

GRAF ABGRUND wie vorhin nach oben sprechend. Hört, Völker der dunklen Centralsonne! Begrüsst Eure neue Weltgebieterin! Sie ist da und wird gleich reden. Rauschendes Beifallsgebrüll. Ich will Euch mal was sagen! Ihr braucht mir keinen weiteren Beifall raufzubrüllen! Spart Eure Lungenkraft für Eure grosse Okurirasûna! Gedämpftes Stimmengemurmel. Wisst Ihr, wie gross die Welt ist? Ich wills Euch sagen: Die Welt ist so gross, dass in ihr auch alle Tollheiten Platz haben; alle Tollheiten, die wir und Andre ausbrüten, haben in der Welt Platz. Auch dieTollheit, in der sich ein Madenwurm für ein Allwesen hält, hat in der grossen Welt Platz. Gemurmel. Kraft meines Amtes sage[91] ich Euch: Seid ganz still! Wenn Ihr Euch über dem All fühlt, so ist das ebenso verzeihlich, als wenn Ihr Euch unter dem All fühlt – auch ebenso verzeihlich, als wenn Ihr Euch in dem All oder als All oder hinter dem All fühlt. Ihr könnt Euch die grössten Dinge einbilden – es schadet das Alles nichts. Die Grandiosität der Welt wird durch Euren Einbildungseifer nicht im mindesten tangirt. Vergesst das nie: Selig sind, die sich recht viel einbilden können! Der Graf setzt wieder seinen Zylinder auf, kommt vor und verbeugt sich vor der Okurirasûna. Haben Sie mich gehört?

OKURIRASÛNA. Nein! Ich musste an meine eigene Rede denken.

GRAF ABGRUND. So! Das muss ich aber bedauern. Na, dann reden Sie, Madam! Stellen Sie sich so hin, wie ich's gemacht habe.


Sie tuts. Rechts und links stehen die Schleppenträgerinnen. Die fünf Räte, zu denen sich jetzt auch der sechste gesellt, stehen, wo sie standen und legen die Hand ans Ohr, um besser hören zu können.


ZWEITER RAT. Graf Abgrund, gehen Sie in den Hintergrund?

GRAF ABGRUND. Sofort!


Er verschwindet hinten rechts.


OKURIRASÛNA mit nach oben gekehrtem Gesicht; ihr Kopfgestell mit den sieben Ringen wird von ihr fester auf den Kopf gedrückt. Ich sehe diese ganze Welt bis in die fernste Tiefe, und ich fühle die Bedürfnisse dieser ganzen Welt. Ich sehe, dass viel überflüssiger Zorn in dieser Welt ist, der die Harmonie des Ganzen stört. Diesen Zorn will ich ausrotten – denn ich will nicht blos dem Namen nach Eure Weltgebieterin sein. Ich will die Sterne, die Zwietracht säen, vernichten. Und ich will die Sterne, die Alles herrlich machen, erheben – so hoch – wie ich selbst erhoben bin. Wilder Beifall. Ich will all die Leiden ausmerzen. Abermals Beifall. Sie ziemen sich nicht für ein grosses Weltendasein. Ich will den Abscheu vernichten, den viele Sterne vor ihresgleichen haben. Stärkster Beifallssturm. Ich will, dass Alle einander achten und sich nicht umbringen, da ich die Wut verachte und verabscheue, Sehr lange anhaltender Beifall. Ich will, dass überall Friede und Freude herrsche[92] und nicht Zank und Gemeinheit. Murmeln und Bewegung in der Tiefe. Das will ich – und als Weltgebieterin Schreiend. werde ich das durchsetzen. – Ich wills! Und Kreischend. ich werde ausführen – das, was ich will! Ich kann nicht mehr!


Graf Abgrund kommt schnell vor, sie sinkt ohnmächtig in die Arme ihrer Schleppenträgerinnen, die sie unter grosser Erregung der Räte hinten rechts abführen. Die Dienerschaft folgt ohne jede Ordnung, und die Räte sehen sich entsetzt und sich hinter den Ohren krauend an.


GRAF ABGRUND als die Dienerschaft auch weg ist. Setzen wir uns, meine Herren! Er setzt sich wie ein Orientale mit untergeschlagenen Beinen unter die Glocke. Die andern Herren setzen sich rechts und links ebenso hin – im Halbkreise.

ZWEITER RAT. Ja!

GRAF ABGRUND die Arme mit gespreizten Fingern in die Höhe reckend. Ach ja!


Vorhang!


Quelle:
Paul Scheerbart: Gesammelte Arbeiten für das Theater. Band 1, München 1977, S. 89-93.
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