Erster Aufzug


[119] Vor der Mitte jeder Wand steht ein Stuhl.


KNEETSCHKE. Ah, sieh da! Der Postbote! Na? Immer noch die Hand am Schwert?

POSTBOTE. Zu Befehl! Wohnt hier Herr Knutschke?

KNEETSCHKE. Nein, mein Lieber! Der Herr wohnt hier nicht.

POSTBOTE. Ach so! Wollte sagen: Knietschke! Wohnt hier Herr Knietschke?

KNEETSCHKE. Nein, mein Lieber! Der Herr wohnt auch nicht in diesem Palaste.

POSTBOTE holt seine Brille vor und leist die Adresse einer Postkarte ganz genau. Natürlich! Das heisst Kneetschke! Wohnt der Herr Kneetschke vielleicht hier?

KNEETSCHKE. Herr Kneetschke bin ich selbst.

POSTBOTE. Hier ist eine Postkarte für Euer Gnaden.

KNEETSCHKE. Wie? Für mich? Das wagen Sie?

POSTBOTE. Ja, was ist denn dabei?

KNEETSCHKE. Mein Lieber, ich bin wohl gewöhnt, eingeschriebene Briefe in Empfang zu nehmen, gelegentlich nehme ich auch einfache Briefe an, wenn ich von ihrem Inhalte vorher in Kenntnis gesetzt wurde – aber offene Postkarten, mein Lieber, sind für mich nicht da. Gehen Sie fort!


Ab hinten links.


POSTBOTE. Das muss ja ein sehr vornehmer Herr sein. Na – ich lege die Karte in die Mitte des Palastes. Er tuts und geht säbelrasselnd hinten rechts ab.


[119] Gräfin Kathi Patzig kommt mit zwei weiblichen Domestiken von hinten links auf die Bühne. Die Drei haben grosse Strohhüte auf dem Kopfe und Sonnenschirme in der Hand, die im Folgenden zugemacht werden.


KATHI. Ach, wenn der Frühling kommt, dann ist Europa so schön – so sehr sehr schön. Und ich liebe die Schönheit.

DIE BEIDEN DOMESTIKEN die Postkarte auf dem Fussboden erblickend. Ah!

KATHI. Na?

DIE BEIDEN DOMESTIKEN Auf die Karte mit dem Sonnenschirm weisend. Da!

KATHI. Ja! Holt sofort meinen Papa und meinen – Wladimir.


Die beiden Domestiken hinten rechts und links ab.


KATHI. Haha! Hinter der Karte steckt ein Geheimnis! Schnell! Sie hebt die Karte auf und liest. Herrn Kneetschke hier. Viktoria-Strasse 17. Mein lieber Kneetschke! Sie sind der grösste Esel von ganz Europa! Und es imponiert mir, dass sie all die vielen andern Esel Europas so überragen. Mit Ihnen ist ein Geschäft zu machen. Ich besitze eine Menagerie lebendiger Monstrositäten – darf ich Sie für diese Menagerie als Riesenesel engagieren? Sie erhalten monatlich tausend Mark Gage und freies Futter. Ich bin Ihr Freund Michel Männlich.


Kathi ringt die Hände und verbirgt die Karte in ihrem Sonnenschirm, während hinten rechts der Papa und links der Wladimir erscheinen.


PAPA UND WLADIMIR zu gleicher Zeit sehr laut. Kathi!

KATHI lässt vor Schreck den Sonnenschirm fallen. Wladimir!

WLADIMIR fängt die Kathi in seinen Armen auf. Was fehlt Dir? Was hast Du da in den Sonnenschirm gesteckt?

KATHI. Es ist ein Geheimnis.

PAPA die Karte aus dem Sonnenschirm hervorziehend. Da werden wir gleich dahinterkommen.

WLADIMIR. Setze Dich nur, mein liebes Bräutchen.


Führt sie zum hinteren Wandstuhl, auf dem sie sich langsam niederlässt.
[120]

PAPA. Das ist ja eine Gemeinheit! Der arme Kneetschke!


Wladimir eilt auf den Papa zu, nimmt ihm die Karte aus der Hand, liest und lacht – und lacht so heftig, dass er sich auf den linken Wandstuhl setzen muss. Der Papa setzt sich auf den rechten.


PAPA ernst. Kathi, hol den Kneetschke her!

WLADIMIR nachdem die Kathi fortgegangen ist. Lieber Papa, Sie wollen doch nicht jetzt mit dem Kneetschke über diese Karte sprechen, nicht wahr?

PAPA. Nein, ich will mit ihm nur über die Verlobungskarten sprechen.

WLADIMIR. Schön! Und diese Postkarte überlassen Sie mir, nicht wahr?

PAPA. Jawohl! Lach blos nicht so viel, mir ist bei allen unsern Geldsorgen durchaus nicht lächerlich zu Mute.

WLADIMIR. Mir eigentlich auch nicht.

PAPA. Hm! Kneetschke kommt von links und verbeugt sich feierlich – erst vor dem Grafen und dann vor dem Fürsten.

PAPA. Kneetschke, die Verlobungskarten sollen gedruckt werden – und zwar auf neuen Hundertmarkscheinen mit Goldlettern: Kathi Patzig und Wladimir Zabórrek Brautpaar. Weiter nichts. Besorgen Sie das.

KNEETSCHKE. Gnädigster Herr Graf, Ihr seliger Herr Grosspapa liess Verlobungskarten stets auf Tausendmarkscheinen drucken. Davon dürfen wir nicht abgeben.

WLADIMIR. Ach! Das wird schön.

PAPA. Mein lieber Kneetschke! Wir haben fünf hundert Verlobungsanzeigen zu versenden – so viel Tausendmarkscheine hab ich nicht.

KNEETSCHKE. Dann dürfte eben die Verlobung nicht stattfinden.

WLADIMIR. Kneetschke! Sie sind wohl verrückt geworden!

KNEETSCHKE. Durchlaucht! Mir geht die Ehre der Familie Patzig über Alles – sie ist mir auch mehr wert als mein bischen Verstand.[121]

WLADIMIR springt auf und gibt dem Kneetschke die bewusste Postkarte. Da – les' Er mal das!

– – – – – – – – – – –

KNEETSCHKE liest und taumelt langsam rückwärts – bis er auf den hinteren Wandstuhl fällt. Oh! Oh! Oh!


Wladimir setzt sich wieder auf den linken Wandstuhl und lächelt.


PAPA. So! So! So!


Mit einem Ruck erheben sich dann alle Drei und stehen steif da – Kneetschke hebt seine beiden

Fäuste hoch zum Himmel empor, Wladimir faltet über seinem Haupte seine Hände – und der Papa spreizt die zehn Finger seiner beiden Hände weit und ausdrucksvoll aus einander.

Gardine!


Quelle:
Paul Scheerbart: Gesammelte Arbeiten für das Theater. Band 1, München 1977, S. 119-122.
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