Der Fünfundsechziger

[65] In luftiger Trinkkemenaten

– Den Ort gesteht man nicht ein –

Da prüften drei späte Nomaden

Den edelsten pfälzischen Wein.

Aus rötlichen Römern erblinkte

Des Rieslings feinperlendes Gold,

Des Höhensaums Rebgeländ' winkte

Im Mondschein den Trinkenden hold.


Der erste, ein weitum gereister

Philologus, spitzte den Mund:[65]

»Das kochten uns Erdfeuergeister

Mit Äther und Sonne im Bund.

Drum flutet's und glutet im Becher

Geistfunkelnd, sanftrhythmisch und voll,

Als sängen homerische Zecher

Ein jonisches Kneiplied in Moll.«


Der zweite, ein trockener Kenner

Und Deuter des römischen Rechts:

»Proficiat«, sprach er, »ihr Männer,

Wir läppern allhiero nichts Schlechts.

Wer schaut nicht, wenn bacchisches Donum

So goldklar im Kelchglase scheint,

Das Justum, Aequum et Bonum

In diesem Römer vereint?«


Der dritte, der putzte die Lichter,

Die mächtig heruntergebrannt,

Und sprach: »Zwar bin ich kein Dichter

Und kunstlos und schlicht von Verstand;

Doch nähert sich solch einem Schoppen

Mein Herz ... dann überwallt's ...

's is halt e verflucht feiner Troppen,

Ich segne die Hügel der Pfalz!«


Derweilen ging draus auf dem Damme

Spießtragend ein vierter vorbei,

Der blies eine wundersame

Gewaltige Melodei:

»Ihr Herren, und lasset Euch sagen,

Die Stadtgemeinde braucht Schlaf,

Die Glocke hat eilf Uhr geschlagen,

Wer jetzt nicht zu Bett geht, zahlt Straf'.«

Quelle:
Joseph Viktor von Scheffel: Kritische Ausgabe in 4 Bänden, Band 1, Leipzig/ Wien 1917, S. 65-66.
Lizenz:
Kategorien:
Ausgewählte Ausgaben von
Gaudeamus. Lieder aus dem Engeren und Weiteren
Gaudeamus!: Lieder Aus Dem Engeren Und Weiteren (Hardback)(German) - Common
Gaudeamus: Lieder aus dem engeren und weiteren (German Edition)