Achtzehnter Brief

[624] Durch die Schönheit wird der sinnliche Mensch zur Form und zum Denken geleitet; durch die Schönheit wird der geistige Mensch zur Materie zurückgeführt und der Sinnenwelt wiedergegeben.

Aus diesem scheint zu folgen, daß es zwischen Materie und Form, zwischen Leiden und Tätigkeit einen mittleren Zustand geben müsse, und daß uns die Schönheit in diesen mittleren Zustand versetze. Diesen Begriff bildet sich auch wirklich der größte Teil der Menschen von der Schönheit, sobald er angefangen hat, über ihre Wirkungen zu reflektieren, und alle Erfahrungen weisen darauf hin. Auf der andern Seite aber ist nichts ungereimter und widersprechender als ein solcher Begriff, da der Abstand zwischen Materie und Form, zwischen Leiden und Tätigkeit, zwischen Empfinden und Denken unendlich ist und schlechterdings durch nichts kann vermittelt werden. Wie heben wir nun diesen Widerspruch? Die Schönheit verknüpft die zwei entgegengesetzten Zustände des Empfindens und des Denkens, und doch gibt[624] es schlechterdings kein Mittleres zwischen beiden. Jenes ist durch Erfahrung, dieses ist unmittelbar durch Vernunft gewiß.

Dies ist der eigentliche Punkt, auf den zuletzt die ganze Frage über die Schönheit hinausläuft, und gelingt es uns, dieses Problem befriedigend aufzulösen, so haben wir zugleich den Faden gefunden, der uns durch das ganze Labyrinth der Ästhetik führt.

Es kommt aber hiebei auf zwei höchst verschiedene Operationen an, welche bei dieser Untersuchung einander notwendig unterstützen müssen. Die Schönheit, heißt es, verknüpft zwei Zustände miteinander, die einander entgegengesetzt sind und niemals eins werden können. Von dieser Entgegensetzung müssen wir ausgehen; wir müssen sie in ihrer ganzen Reinheit und Strengigkeit auffassen und anerkennen, so daß beide Zustände sich auf das bestimmteste scheiden; sonst vermischen wir, aber vereinigen nicht. Zweitens heißt es: jene zwei entgegengesetzten Zustände verbindet die Schönheit und hebt also die Entgegensetzung auf. Weil aber beide Zustände einander ewig entgegengesetzt bleiben, so sind sie nicht anders zu verbinden, als indem sie aufgehoben werden. Unser zweites Geschäft ist also, diese Verbindung vollkommen zu machen, sie so rein und vollständig durchzuführen, daß beide Zustände in einem dritten gänzlich verschwinden und keine Spur der Teilung in dem Ganzen zurückbleibt; sonst vereinzeln wir, aber vereinigen nicht. Alle Streitigkeiten, welche jemals in der philosophischen Welt über den Begriff der Schönheit geherrscht haben und zum Teil noch heutzutag herrschen, haben keinen andern Ursprung, als daß man die Untersuchung entweder nicht von einer gehörig strengen Unterscheidung anfing oder sie nicht bis zu einer völlig reinen Vereinigung durchführte. Diejenigen unter den Philosophen, welche sich bei der Reflexion über diesen Gegenstand der Leitung ihres Gefühls blindlings anvertrauen, können von der Schönheit keinen Begriff erlangen, weil sie in dem Total des sinnlichen Eindrucks nichts Einzelnes unterscheiden. Die andern, welche den Verstand ausschließend zum Führer nehmen, können nie einen Begriff von der Schönheit erlangen, weil sie in dem Total derselben nie etwas anders als die Teile sehen und Geist und Materie auch in ihrer vollkommensten Einheit ihnen ewig geschieden bleiben. Die ersten fürchten, die Schönheit dynamisch, d.h. als wirkende Kraft aufzuheben, wenn sie trennen sollen,[625] was im Gefühl doch verbunden ist; die andern fürchten, die Schönheit logisch, d.h. als Begriff aufzuheben, wenn sie zusammenfassen sollen, was im Verstand doch geschieden ist. Jene wollen die Schönheit auch ebenso denken, wie sie wirkt; diese wollen sie ebenso wirken lassen, wie sie gedacht wird. Beide müssen also die Wahrheit verfehlen, jene, weil sie es mit ihrem eingeschränkten Denkvermögen der unendlichen Natur nachtun; diese, weil sie die unendliche Natur nach ihren Denkgesetzen einschränken wollen. Die ersten fürchten, durch eine zu strenge Zergliederung der Schönheit von ihrer Freiheit zu rauben; die andern fürchten, durch eine zu kühne Vereinigung die Bestimmtheit ihres Begriffs zu zerstören. Jene bedenken aber nicht, daß die Freiheit, in welche sie mit allem Recht das Wesen der Schönheit setzen, nicht Gesetzlosigkeit, sondern Harmonie von Gesetzen, nicht Willkürlichkeit, sondern höchste innere Notwendigkeit ist; diese bedenken nicht, daß die Bestimmtheit, welche sie mit gleichem Recht von der Schönheit fodern, nicht in der Ausschließung gewisser Realitäten, sondern in der absoluten Einschließung aller besteht, daß sie also nicht Begrenzung, sondern Unendlichkeit ist. Wir werden die Klippen vermeiden, an welchen beide gescheitert sind, wenn wir von den zwei Elementen beginnen, in welche die Schönheit sich vor dem Verstande teilt, aber uns alsdann auch zu der reinen ästhetischen Einheit erheben, durch die sie auf die Empfindung wirkt und in welcher jene beiden Zustände gänzlich verschwinden7

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Einem aufmerksamen Leser wird sich bei der hier angestellten Vergleichung die Bemerkung dargeboten haben, daß die sensualen Ästhetiker, welche das Zeugnis der Empfindung mehr als das Räsonnement gelten lassen, sich der Tat nach weit weniger von der Wahrheit entfernen als ihre Gegner, obgleich sie der Einsicht nach es nicht mit diesen aufnehmen können; und dieses Verhältnis findet man überall zwischen der Natur und der Wissenschaft. Die Natur (der Sinn) vereinigt überall, der Verstand scheidet überall, aber die Vernunft vereinigt wieder; daher ist der Mensch, ehe er anfängt zu philosophieren, der Wahrheit näher als der Philosoph, der seine Untersuchung noch nicht geendigt hat. Man kann deswegen ohne alle weitere Prüfung ein Philosophem für irrig erklären, sobald dasselbe, dem Resultat nach, die gemeine Empfindung gegen sich hat; mit demselben Rechte aber kann man es für verdächtig halten, wenn es, der Form und Methode nach, die gemeine Empfindung auf seiner Seite hat. Mit dem letztern mag sich ein jeder Schriftsteller trösten, der eine philosophische Deduktion nicht, wie manche Leser zu erwarten scheinen, wie eine Unterhaltung am Kaminfeuer vortragen kann. Mit dem erstern mag man jeden zum Stillschweigen bringen, der auf Kosten des Menschenverstandes neue Systeme gründen will.

Quelle:
Friedrich Schiller: Sämtliche Werke, Band 5, München: Hanser 31962, S. 624-626.
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